Coco Chanel & Igor Strawinsky
Aber jetzt gewinnt ein opportunistischer Zug in ihr die Oberhand. Sie kostet den Moment aus, so lange es geht.
Soulima will noch etwas sagen, aber als er erkennt, wie verärgert seine Mutter ist, bleibt er stumm und geht aus dem
Zimmer. Widerstrebend folgen ihm die anderen Kinder nach oben ins Bett.
Nun wendet sich auch Jekaterina zum Gehen. »Gute Nacht, Igor. Ich sehe dich gleich oben«, sagt sie mit kaum verhohlenem Zorn.
Mit einer übertrieben hilflosen Geste sieht er zu seiner Frau auf. Aber Jekaterina lässt sich nicht beeindrucken. Ihr Blick verrät ihm, wie lächerlich er sich in ihren Augen macht. Ob bewusst oder unbewusst, er hat sich täuschen lassen. Das muss er doch sehen. Wenn er manipuliert wurde, ist er ein Narr. Und wenn er genau weiß, was er tut, ist er grausam und ehrlos. Unvermittelt verspürt sie das Bedürfnis, alles, was sie über ihren Mann weiß, zu überdenken. Sie geht hinaus und schlägt die Tür hinter sich zu.
Joseph und Marie ziehen sich in die Küche zurück, während Igor Cocos Stirn abtupft.
»Die hat vielleicht Nerven!«, faucht Marie.
»Vorsicht. Sie könnte dich hören«, erwidert ihr Mann.
»Ist doch wahr«, fährt Marie fort, ohne die Stimme zu senken. »Was um Himmels willen denkt sie sich bloß dabei? Erst lädt sie diese Leute in ihr Haus ein, und dann beleidigt sie sie. Ihr Problem ist, sie hat zu viel Geld und weiß nicht, was sie damit anstellen soll.«
»Psst!«
»Sie sieht sich selbst als große Mäzenin, hat aber nicht den Anstand, sich auch so zu verhalten. Eigentlich ist sie ja auch nichts Besseres als du oder ich. Und bezahlt sie uns etwa mehr für die ganze zusätzliche Arbeit? Einen Teufel tut sie.«
Währenddessen ist Suzanne in die Küche gekommen. Sie hört ihrer schimpfenden Mutter zu und versucht, die komplexen Vorgänge zu durchschauen. Aus Sorge, sie könne zu viel verstehen, bedeutet Joseph seiner Frau, endlich still zu
sein. Er will nicht in die Sache hineingezogen werden. Als er sieht, dass Marie sich wieder beruhigt, legt er einen Finger an die Lippen und geht rückwärts zur Tür.
»Was ist mit dem Klavier, Monsieur?«, fragt er, als er das Wohnzimmer betritt. Igor ist abgelenkt, und er muss die Frage wiederholen.
»Am Besten lassen wir es bis morgen früh hier stehen.«
»Sie können jetzt gehen, Joseph.« Coco entlässt ihn mit einer Geste, die hilflose Mattigkeit erkennen lässt. »Danke«, sagt sie sanft zu Igor, als sie wieder allein sind. Sie zwinkert hektisch, während ihre kleinen Brüste beben.
Das Echo der Melodien hängt immer noch im Raum und lässt ihn dadurch noch leerer erscheinen. Igor wirft einen flüchtigen Blick auf ihren Ausschnitt und das Halbrund ihrer Perlenkette. Sein Mund ist wie ausgedörrt, und er versucht, nicht zu schlucken. Ein angespanntes Schweigen senkt sich auf sie herab. Ihre Augen wirken schwarz wie Seen.
Plötzlich röten sich ihre Wangen, und ihre Lippen öffnen sich wie eine Blüte. Schockiert wird ihm bewusst, dass er sich vorstellt, wie es wäre, sie zu küssen. Die Lebendigkeit dieses Bildes verblüfft ihn; gleichzeitig erkennt er überrascht, dass er gar nichts Unschickliches daran findet. Der Impuls hat seinen Ursprung irgendwo tief in seinem Innern, und er erscheint ihm vollkommen natürlich und gut.
Auf seinen Arm gestützt, gelingt es Coco aufzustehen. Sie macht ein paar unsichere Schritte zum nächsten Sessel und lässt sich hineinfallen. »Es geht mir schon wieder gut«, sagt sie.
»Sind Sie sicher?« Er steht dicht bei ihr, falls sie erneut ohnmächtig werden sollte. Mit einem Mal kommt er sich überaufmerksam vor.
Sie spürt seine Verlegenheit und antwortet nicht. Stattdessen
nimmt sie ihr Haarband ab und schiebt ihr Haar hinter die Ohren.
Igor weiß nicht, was er sagen soll. »Wir haben uns eben kurz ernsthaft Sorgen um Sie gemacht.« Der Satz endet in einem bemühten Lachen.
Coco hat ihre Selbstbeherrschung wiedergefunden. Ohne den Kopf zu heben, blickt sie zu ihm auf und sieht ihm direkt ins Gesicht. Wieder kämpft er den kaum beherrschbaren Drang nieder, sie zu küssen.
»Sie sollten lieber hochgehen«, sagt sie nach einer Pause, die sich endlos auszudehnen scheint. »Ihre Frau wartet.«
Vorhin hat sie aus einer instinktiven Eingebung heraus gehandelt, doch jetzt verschließen sich ihre Züge. Alle Verwegenheit fällt von ihr ab. Igor fühlt sich plötzlich schutzlos und verletzlich. Er spürt ihre erneute Distanziertheit und bemüht sich, ihre Sprunghaftigkeit zu verstehen.
Weitere Kostenlose Bücher