Coco Chanel & Igor Strawinsky
ausführlich ihre immer noch andauernde Krankheit. Dadurch vermeidet sie, zu viel über Igor reden zu müssen. Es würde ihr ohnehin schwerfallen, ihren Eindruck von ihm in Worte zu fassen. Sie ist sich selbst nicht sicher. Es ist wie das gelegentliche Stocken in ihren Gesprächen, diese Unklarheiten, die sich zwischen das Russische und das Französische schieben. Sie sucht immer noch nach dem Code, der es ihr ermöglicht, ihre Gefühle zu entschlüsseln. Vielleicht fühlt sie ja auch gar nichts. Wer weiß?
Abrupt wechselt sie das Thema und wendet sich dem Geschäft zu. Sie will die Abrechnungen sehen. Als sie die Spalten überfliegt, registriert sie die üblich schwachen Verkaufszahlen für Juli. Coco seufzt. »Na ja, so gut, wie eben zu erwarten war.«
Um Coco aufzuheitern und ihre eigenen Führungsqualitäten zu betonen, erzählt ihr Adrienne, wie fleißig alle in ihrer Abwesenheit gewesen seien.
»Und was soll dann das Gerede über eine Lohnerhöhung?«
»Das sind die Französinnen. Die anderen klagen überhaupt nicht. Sie wären zufrieden damit, für weniger Geld noch länger zu arbeiten!«
»Dann sorgen also nur die Einheimischen für Ärger?«
»Keine Angst, sie werden schon keine Revolte anzetteln.«
»Hmm.«
»Ich habe alles im Griff. Vertrau mir.«
Langsam breitet sich ein Lächeln auf Cocos Lippen aus. Sie schließt das Hauptbuch und legt schwungvoll beide Hände darauf. »Es tut mir leid. Du machst das hier ganz fantastisch.«
Auf dem Weg zurück nach unten hält Coco einen Moment inne. Unbemerkt beugt sie sich über das Geländer im Zwischengeschoss und lässt den Blick über ihren Salon gleiten. Hier bekommen ihre Entwürfe Gestalt: gegürtete Blusen aus Crêpe de Chine, ärmellose Abendkleider aus schwarzem Tüll und kurze Tweedjacken mit aufgesetzten Taschen und umgeschlagenen Manschetten.
Sie beobachtet, wie Kundinnen über die Kleider streichen. Das liebt sie, wie sich die Stoffe anfühlen, wenn das Material zwischen den Fingern hindurchgleitet. Ein Schauer durchfährt sie, wenn sie nur daran denkt. Sie kann es kaum erwarten, sich wieder an die Arbeit zu machen.
Ein diffuses Schwatzen steigt von unten herauf, in dem sie ebenso viel Russisch wie Französisch ausmacht. Sie muss lächeln. Hier steht sie nun, eine neureiche Französin von bescheidenster Herkunft, und herrscht über all diese enteigneten Fürstinnen und Gräfinnen, das Treibgut der Revolution. Die Zierde der Moskauer und Sankt Petersburger Salons steht für sie Modell und verkauft ihre Kleider!
Coco hat eine Idee für ein Kleid.
Eines ihrer dunkelhaarigen Modelle steht bereit, um ihr dabei zu assistieren. Sie arbeiten in dem Raum über dem Salon, umringt von mehreren Spiegeln. Das Modell steht so steif wie möglich da. Coco rutscht, erst auf Knien, dann auf allen vieren, um sie herum, steht auf, hockt sich wieder
hin. Und die ganze Zeit über murmelt sie unverständliche Worte vor sich hin. An einem Band um ihren Hals hängt eine Schere. Hin und wieder einen Blick auf eine Vorlage werfend, arbeitet sie direkt mit dem Material.
Es ist ein beigefarbenes Seidenkleid mit asymmetrischem Saum und einem Kragen, der an einen Schal mit übereinandergeschlagenen Enden erinnert. Hier eine Rüsche verschiebend, dort eine Falte glättend, vereinfacht sie Stück für Stück die Linie des Kleids und lässt es nur am Saum etwas ausgestellt. Dann wendet sie sich den Armen zu. »Diese verdammten Ärmel bekomme ich nie richtig hin!«, schimpft sie.
Stofffetzen liegen auf dem Boden verstreut. Coco hält die Nadeln quer zwischen den Lippen wie andere eine Rose oder ein Messer. Wenn sich das Modell nur ein bisschen bewegt oder sein Gewicht verlagert, brüllt Coco gleich los. »Kannst du nicht mal eine Minute stillhalten? Wofür bezahle ich dich eigentlich?«
Das Modell ist neu und ihre Ausbrüche noch nicht gewöhnt. Eingeschüchtert erstarrt es in der gewünschten Pose, bis die Erschöpfung und die Verkrampfung unerträglich werden. Und wenn es dann unweigerlich irgendwann doch das Gleichgewicht verliert oder seine Haltung verändert, prasselt ein weiterer fast schon hysterischer Hagel von Beschimpfungen auf das Mädchen ein.
»Steh gefälligst gerade, Kind!« Da sie die Nadeln zwischen ihren Lippen festhalten muss, dehnt sich Cocos Mund beim Schreien in die Breite.
Es ist heiß über dem Laden, und sie arbeitet wie eine Getriebene. Es ist schon Nachmittag, sie haben keine Mittagspause gemacht. Wie besessen korrigiert sie immer wieder
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