Coco Chanel & Igor Strawinsky
an den Ärmeln herum, heftet und steckt fest, bis sie endlich zufrieden ist. Das Kleid wird nach unten gegeben, wo es fertig
genäht werden soll. Sie fährt mit einem Magneten über den Boden, um verlorene Näh- und Stecknadeln aufzusammeln.
Anschließend entspannt sich Coco mit einer Zigarette auf einem der viereckigen Wildledersofas. Ihr Körper bildet die Form eines Z. Träge fragt sie sich, was Igor in Garches wohl gerade macht. Als ihr bewusst wird, was sie gerade denkt, wundert sie sich über sich selbst. Doch dann kommt ihr schlagartig die Erkenntnis: Sie vermisst ihn.
Er hat einfach eine unglaubliche Präsenz, denkt sie. Im Moment ist er wie Ballast in ihrem Leben. Es ist furchtbar! Zum Teil ist sie nach Paris zurückgekommen, um herauszufinden, wie es sich anfühlen würde, ein paar Tage von ihm getrennt zu sein. Und vorhin hat sie sich dabei ertappt, wie sie seinen Namen immer wieder auf eine Serviette schrieb, wie ein junges Mädchen, das seine Unterschrift übt. Danach kam sie sich lächerlich vor.
Sie mag Igor sehr gern, und er ist tatsächlich anders als die meisten Männer: ernster, reifer. Sie bewundert seine geistige Unabhängigkeit, sein musikalisches Genie. Und in der Hingabe, mit der er sich seiner Arbeit widmet, erkennt sie etwas von sich selbst wieder. Er ist vielleicht kein besonders schneidiger Mann, aber er ist klug, und sie findet ihn inspirierend.
Sie bestellt ein Geschenk für ihn. Da sie weiß, dass er technische Spielereien mag, hat sie einen mechanischen Vogel für ihn gekauft. Ein raffiniertes aufziehbares kleines Ding mit eigenem Käfig. Der Vogel legt den Kopf auf die Seite, während er rasch den Schnabel öffnet und schließt und seine Flügel zuckend zum Leben erwachen. Er gibt sogar ein schrilles Pfeifen von sich. Und wenn Igor je die Kinder damit spielen lässt, könnte er ihnen vielleicht auch gefallen.
Das Läuten der Ladenglocke, das von unten heraufdringt,
lenkt ihre Aufmerksamkeit wieder zurück auf den Nachmittag. Sie raucht ihre Zigarette zu Ende und geht in beinahe königlicher Haltung nach unten. Sie weiß, dass die übrigen Angestellten gehört haben, wie sie das Modell ausgeschimpft hat. Das ist gut. Dann werden sie auch nicht nachlässig. Diese strenge Führung ist notwendig, wenn sie ihr Niveau halten will.
Coco ist für zwei Tage zu ihrem Salon gefahren, und ohne sie wirkt die Villa mit einem Mal sehr still.
In ihrer Abwesenheit breitet sich eine merkwürdige Taubheit in Igors Körper aus. Die geregelte Form seines Tages verzieht sich. Er merkt, dass er sich nicht konzentrieren kann. Seine Gedanken wandern immer wieder zu ihr, und sein Geist ist zerstreut. Er setzt den Stift ab, lehnt sich auf seinem Stuhl zurück und schiebt seine Brille auf die Stirn hoch. Ein Insekt spaziert auf seinen zahllosen Beinen wie eine Zweiunddreißigstelnote über sein Manuskript.
Einem plötzlichen Impuls folgend, steht er auf. Im Haus ist kein Laut zu hören. Die Kinder werden von ihrer Hauslehrerin beaufsichtigt. Mit neu erwachter Entschlossenheit tritt er hinaus in den Flur und geht mit großen Schritten die Treppe hinauf. Leise, um seine Frau nicht zu stören - ihr Verhältnis ist seit dem Streit vor ein paar Tagen angespannt -, schleicht er zu Cocos Zimmer.
Die Tür ist nicht verschlossen. Zitternd tritt er ein. Kühnheit treibt ihn voran, aber auch das Bedürfnis, die Sehnsucht danach, bei ihr und ihren persönlichen Sachen zu sein. Im Zimmer wirft das Sonnenlicht messerscharfe Schatten an die Wand. Als er Fotos von Coco entdeckt, geht er darauf zu, um sie aus der Nähe zu betrachten. Eines zeigt sie in einem Stall, sie hat etwas von einer Reiterin an sich, an ihrem Ärmel ist
der Ansatz einer Kavallerietresse zu erkennen. Auf einem anderen sitzt sie lesend auf einer Terrasse, das Haar fällt ihr offen auf die Schultern. Ein drittes Bild zeigt sie entspannt in einer Matrosenjacke am Strand.
Als er sich umdreht, fällt sein Blick auf ihr Bett: die kühlen Kissen, die Intimität der seidenen Laken. Er bemerkt ein paar Kleidungsstücke, die über einen Paravent gebreitet sind. Die abergläubische Furcht, dass ein Teil von ihr immer noch in diesen Stoffen wohnt - eine geisterhafte Präsenz, die, wenn er sie anfasst, zum Leben erwachen könnte -, hält ihn davon ab, sie zu berühren. Die Luft um ihn herum verdichtet sich, während er sich vorstellt, wie sie ganz in seiner Nähe ist.
Flüchtig sieht er sein Bild im Spiegel ihrer Frisierkommode. Eine blinde Stelle erzeugt
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