Coco Chanel & Igor Strawinsky
verblüffen ihn. Er fragt sich, ob sie ihn in dieser Hinsicht naiv findet.
Jekaterina bleibt beim Liebesspiel stets passiv. Nahm sie in der Vergangenheit seine Zärtlichkeiten bestenfalls teilnahmslos hin, macht ihre Krankheit den Geschlechtsverkehr jetzt zu einer schwierigen, unbeholfenen Angelegenheit. Wenn ihr Körper überhaupt reagiert, denkt er, dann bloß aus einem gewohnheitsmäßigen Reflex heraus. Die Wahrheit ist, dass sie die körperlichen Ansprüche hasst, die er an sie stellt.
Wo Jekaterina den Liebesakt als eheliche Pflicht erduldet, als einen Akt der Fortpflanzung, der viel zu schnell zu vier Kindern geführt hat, erlebt Igor ihn mit Coco zum ersten Mal als wechselseitig Freude spendendes und von wildem Genuss geprägtes Glück. Die Erfahrung ist vergleichbar mit der unvermittelten, befreienden Entdeckung des Jazz. Es liegt etwas Freudvolles, ja Glanzvolles darin. Als sei alle Schüchternheit von ihm abgefallen und er endlich frei zu improvisieren. Es gibt keine Regeln. Da sie ihn ermutigt, seinen spontanen Einfällen zu folgen, ist es jedes Mal anders. Ihr Liebesspiel ist von ausgelassener Hingabe geprägt, und ihre Beziehung gewinnt mit der Zeit eine unaufhaltsame Dynamik.
Der Schuldvogel wurde von seiner Schulter geblasen. Er kann jetzt nicht mehr aufhören.
Ihre Affäre lässt ihn alles in einem grelleren Licht sehen, so als hätte er eine neue Brille bekommen, mit der er die Farben leuchtender sehen kann als je zuvor. Und nachdem er einen flüchtigen Eindruck von den schillernden Nuancen und intensiven Kontrasten gewonnen hat, vom Pulsieren des Lebens um ihn herum, will er dieses Glück nicht mehr missen.
Sie beginnen einander Liebesbriefe zu schreiben. Igor schreibt eine Nachricht und legt sie in den Klavierhocker. Nachmittags nimmt Coco sie mit und lässt ein paar eigene Zeilen, in ihrer vertrauten, ausladenden, leicht kindlich anmutenden Handschrift zurück. Ihre Briefchen sind schlicht, überschwänglich und voller Koseworte, und sie sind geheim, was sie noch erregender macht. Meist schreibt Igor mehr als Coco. Aber da sie über so viel emotionales Zartgefühl und Eloquenz verfügt, denkt er, können ein paar kurze Sätze von ihr anrührender, zärtlicher und wahrer sein als alle wohlformulierten Phrasen, die er hervorzaubern könnte.
Morgens arbeiten sie, nachmittags lieben sie sich. Wenn sie sich zu anderen Tageszeiten begegnen, beim Abendessen etwa, versuchen sie in Gegenwart des anderen eine distanzierte Fassade aufrechtzuerhalten. Es scheint, als gäbe es zwei verschiedene, klar voneinander abgegrenzte Ebenen, auf denen sie agieren können. Diese beiden Ebenen überlagern sich an keiner Stelle, sodass sie, zumindest vorläufig, nicht miteinander in Einklang gebracht zu werden brauchen. Sie ähneln zwei Klarinetten, die gleichzeitig in zwei gegensätzlichen Tonarten spielen. Die einzig nötige Aussöhnung ist das Akzeptieren ihrer Verschiedenartigkeit.
Sie existieren gleichzeitig in einer Art Übertonart.
Um der ständigen Gefahr der Entdeckung in seinem Arbeitszimmer zu entfliehen, machen Igor und Coco einen Spaziergang in den Wald.
Als sie an eine abgelegene Lichtung kommen, vergessen sie ihre übliche Vorsicht. Die verbotene Natur ihrer Beziehung weckt eine plötzliche Glut. Um sie herum zirpen erregt die Insekten. Augenblicklich verschmelzen ihre Bedürfnisse und fokussieren sich auf ein versengtes Stück Waldboden. Sie ziehen sich hastig aus und vereinen sich zu einem wiegenden Knoten. Beide stöhnen hemmungslos, als sich eine Leidenschaft Bahn bricht, die nicht länger erstickt wird, sondern sich endlich frei ausdrücken darf. Der ganze Wald scheint ihre Schwingungen aufzunehmen. Vögel antworten aus den höchsten Zweigen. In der Ferne bellt ein Hund. Für beide verzerren sich die Minuten des Tages und weiten sich zu einem herrlichen und unerwarteten zweiten Leben.
Als sie danach ihre Kleider zusammensuchen, sagt Coco: »Ich glaube, sie wissen Bescheid.«
»Wer?«
»Joseph und Marie.«
»Woher?«
»Sie führen den Haushalt. Sie wissen alles.«
Angst pulsiert durch seinen Körper. »Mein Gott, was sollen wir tun?« Er stolpert, als er seine Hose anzieht.
»Beruhige dich. Sie sind mir gegenüber loyal. Sie sind meine Angestellten, vergiss das nicht.«
Beide schweigen.
Sie schließt den letzten Knopf ihrer Bluse. »Aber vermutet Jekaterina nicht ohnehin schon etwas?«
Er sieht sie an. »Ich fürchte jeden Tag, dass sie es herausfinden könnte.«
»Willst du es jetzt
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