Coco Chanel & Igor Strawinsky
über den Haufen werfen. Die Möglichkeiten gabeln und verzweigen sich vor ihm, bis seine Zukunft plötzlich völlig unbeherrschbar erscheint.
Neben ihm schaut der Kopf seiner Frau unter dem Laken hervor. Sie atmet ungleichmäßig, ihr Haar ist wie ein Schatten unter ihrem Kopf ausgebreitet. Er streckt die Hand aus und berührt ihre Stirn. Sie ist heiß. Hektische Röte färbt ihre Wangen. Ihr Körper hat schon immer mehr Wärme produziert als der seine. Sie hat die kalorische Oberherrschaft. Er schließt die Augen. Das Einzige, was er sieht, ist Coco. Das Einzige, woran er denken kann, ist Coco. Sie ist das Erste,
woran er morgens denkt, und das Letzte, was er spätabends noch vor sich sieht. Sie ist zu seiner ganzen Welt geworden. So, als sei vorher nichts da gewesen. Alles andere ist ausgelöscht. Er will sein Leben noch einmal ganz von vorn beginnen, beschließt er, hier und jetzt, mit ihr.
Bei diesem Gedanken spürt er eine Last auf seiner Brust, die ihm die Luft abdrückt. Etwas Dichtes, Rachsüchtiges breitet sich in der Dunkelheit über sein Bett. Seine Kopfhaut gefriert. Verängstigt zieht er die Decke hoch bis zum Hals. Wie sehr er sich auch bemüht, er kann einfach nicht einschlafen, obwohl er bis spät in die Nacht hinein versucht hat, seine Sinne mit Wodka zu betäuben.
Auf der falschen Seite liegend, lässt er die frühen Morgenstunden vorbeigleiten - und wird bei lebendigem Leib aufgefressen. Es scheint, als hätten die Mücken das Anschwellen seines Blutes bemerkt. Die ganze Nacht hindurch surren sie über ihm wie Uhren, die gerade aufgezogen werden. Schlimmer noch, draußen vor seinem Fenster schreien Katzen wie Säuglinge. Das Geräusch - dieses schrille Jammern, die Andeutung eines sich sträubenden Fells - bohrt sich mit scharfen Klauen in sein entsetztes Bewusstsein.
Abrupt schreckt er hoch. Ein stechender Schmerz strahlt aus seinem Innern heraus. Sodbrennen. Kleine Säureabsonderungen erzeugen ein Brennen in seiner Brust.
Es ist noch sehr früh. Ihm schwindelt unter der doppelten Last aus Schuldgefühlen und Müdigkeit. Als er sich aufsetzt, hat er den Eindruck, die Winkel des Zimmers kippten. Die Schwerkraft scheint aus dem Gefüge der Dinge gewichen zu sein. Die Gegenstände im Zimmer wirken instabil, nur noch gehalten von einem unsichtbaren Druck von oben. Als Igor aufsteht, hat er Angst, der Fußboden könne unter ihm wegbrechen
und den Abgrund darunter sichtbar werden lassen. Vorsichtig tasten seine Füße nach dem Boden. Nur wundersame Kräfte, so erscheint es ihm, halten ihn aufrecht.
In Wahrheit ist er in Gedanken, in glückselige, hoffnungsvolle Gedanken versunken und unbeherrschbaren Trieben unterworfen. Er kann jetzt nicht mehr zurück. Alles erinnert ihn an sie. Ihr Geruch drängt ihm in die Nase, ihr Bild haftet an den Spiegeln. Die Anziehungskraft ihres warmen Körpers zieht ihn unwiderstehlich zu ihr hin. Er leidet schlimmste Qualen. Die Hitze treibt ihn zur Verzweiflung.
Und er fürchtet, dass er dafür wird bezahlen müssen. Was, wenn Jekaterina es herausfindet? Sie wäre am Boden zerstört. Sie ist jetzt schon sehr schwach. Das könnte zu viel für sie sein.
Er sieht zu ihr hinüber. Sie erscheint ihm fremd. Eine Kluft hat sich zwischen ihnen aufgetan, die alles in Frage stellt, was sie je geteilt haben. Er versucht sich an eine Gelegenheit zu erinnern, als sie glücklich waren. Eine Reihe von Augenblicken tauchen vor seinem geistigen Auge auf, aber sie wirken wie starre Bilder, fern und sogar ein wenig unwirklich. Eine Muschel auf ihrem Nachttisch schimmert samten.
Er geht ans Fenster und lugt durch die Vorhänge. Der Himmel ist noch dunkel. Die gewohnten Sterne tauchen in seinem Blickfeld auf. Seltsamerweise scheint das Universum unverändert.
Er denkt an die starken unsichtbaren Verbindungen, die unbemerkten Netze des Zufalls, die ihn gerade zu diesem Zeitpunkt hierher zu Coco in diese Villa gebracht haben. Er fragt sich, welche gütigen oder boshaften Bemühungen des Schicksals wohl dafür verantwortlich sind.
Er war nie ein Mensch, der einfach aufgibt und fortgeht. Er lässt nicht gern von einer Aufgabe ab, bevor sie erledigt
ist. Aber wo ist sein Verantwortungsbewusstsein jetzt, wo ist seine Ausdauer, sein Durchhaltevermögen? Und wozu das alles? Für einen vollkommen unwirklichen Hauch von Freiheit? Ein zerstörerisches Begehren?
Ein Schweißfilm bedeckt sein Gesicht. Seine Pyjamajacke klebt an seinem Rücken. Glühende Hitze rieselt über seine Haut.
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