Coco Chanel & Igor Strawinsky
beenden?«
»Das kann ich nicht.« Er hat sich noch nie so lebendig gefühlt. Es ist wie bei der Geburt des ersten Kindes, denkt er. Man liebt es von ganzem Herzen und glaubt, man könne nie wieder einen Menschen so sehr lieben. Und dann kommt das zweite Kind, und man liebt es genauso sehr, wenn nicht sogar noch mehr. So geht es ihm auch mit der Ehe. Er hätte nie gedacht, dass er einmal jemandem begegnen würde, den er genauso sehr lieben würde wie Jekaterina. Und hier steht er nun, mit Coco, und seine ganze Welt wurde auf den Kopf gestellt.
Auch sie gewöhnt sich allmählich an die Erkenntnis, dass sie sich verliebt hat. Sie erlebt dieses Gefühl als etwas Grundlegendes, etwas, das in ihrem Leben genauso notwendig ist wie die Mauern des Hauses, wie die in Sonne getauchten Fenster oder das warme Ziegeldach über ihrem Kopf. Es ist frei von aller rüschigen Opulenz oder hohlen Zierde, es hat die klaren, sauberen Linien einer Tatsache. Man kann es nicht missverstehen. Wie ein Duft ist es einfach da.
»Ich verspreche dir, ich werde dich nicht ersticken«, sagt sie.
»Vielleicht will ich ja erstickt werden.« Als er fertig angezogen ist, küsst er sie erneut.
»Lass mich deine Geliebte sein.«
»Das wäre schön.«
»Und du bist mein Liebhaber.«
Einen Moment lang lehnen sie die Stirn aneinander, ehe er ungläubig den Kopf schüttelt. »Es ist verrückt, aber zum ersten Mal seit Jahren bin ich wirklich glücklich.« Er meint es ernst. Ein seltenes Wohlgefühl durchströmt ihn.
»Das freut mich«, sagt sie.
Als sie im Sonnenlicht zu ihm aufschaut, ist sie so geblendet, dass alles um sie herum plötzlich weiß wird.
Igor, der schon unter normalen Umständen geradezu manisch auf Sauberkeit bedacht ist, achtet peinlich genau darauf, Cocos Geruch stets von sich abzuwaschen. Auch sorgt er immer dafür, dass seine Kinder nachmittags entweder mit ihrem Unterricht beschäftigt sind oder außer Hörweite draußen spielen. Ihre Affäre ist zwar an sich leichtsinnig, aber die praktische Umsetzung ist - abgesehen von der stürmischen Episode im Wald - strikt bis zum Äußersten.
Trotzdem sträubt sich ein schalkhafter Zug in Cocos Wesen gegen die strenge Ordnung, die ihre Treffen schnell entwickeln. Hin und wieder verspätet sie sich absichtlich. Dann spürt Igor, wie sich eine eisige Leere in seinem Körper ausbreitet. Selbst ist er ein wahrer Pünktlichkeitsfanatiker, der alle Verabredungen gewissenhaft einhält, und so beginnt er, unruhig in seinem Arbeitszimmer auf und ab zu laufen, wenn sie auch nur eine Minute zu spät kommt. Seine Beklemmung wächst, wenn sich diese eine Minute zu fünf oder zehn ausdehnt. Natürlich kommt sie schließlich doch immer, und seine Sehnsüchte werden schnell gestillt, aber seine Bestürzung bereitet ihr ein heimliches Vergnügen.
Unweigerlich erwacht Jekaterinas Misstrauen. Sie beobachtet sie und lauert auf jedes verräterische Zeichen. Sie weiß, dass sich Igor in der Vergangenheit bereits zu anderen Frauen hingezogen gefühlt hat, aber diesmal ist es anders. Seine Beziehung zu Coco ist von einer Ernsthaftigkeit, die keine seiner früheren Freundschaften mit Frauen je besaß. Was Jekaterina diesmal Sorgen bereitet, ist die Tatsache, dass Igor kein junger Mann mehr ist. Das hier lässt sich nicht mehr als vorübergehende Schwärmerei abtun. Er ist achtunddreißig, um Himmels willen. Ein reifer, erwachsener Mann. Diesmal ist es ernst.
Wie sehr sich Coco und Igor auch um Diskretion bemühen,
bei den gemeinsamen Mahlzeiten erkennt Jekaterina mit einem erdrückenden Gefühl der Hilflosigkeit, dass tatsächlich etwas im Gange ist. Sie sieht die Funken, die zwischen ihnen sprühen, wenn sie miteinander reden. Zum ersten Mal ist ihre Beziehung offen zu erkennen. Und zumindest Igor scheint sich der peinlichen Durchschaubarkeit seines Verhaltens gar nicht bewusst zu sein.
Sie verraten sich unabsichtlich. Ihre Nähe zueinander ist trotz aller Bemühungen unübersehbar. Ihre Stimmen klingen sanfter und verschmelzen zu einer einzigen, wenn der andere dabei ist. Eine gewisse Sehnsucht schleicht sich in ihr Verhalten. Sie essen wenig. Sie sieht ihn quer über den Tisch aus feucht schimmernden Augen an, und er antwortet mit verstohlenen Blicken. Ihr Knie lehnt achtlos an seinem.
Angewidert bringt Jekaterina kaum einen Bissen herunter. Sie hat keine Freunde in der Nähe, mit denen sie sich beraten oder denen sie ihre Sorgen anvertrauen könnte. Einsam lebt sie in einer Art Blase. Wenn sie mit
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