Coco Chanel & Igor Strawinsky
Angst greift nach ihm. Er widersteht dem Impuls, niederzuknien und inbrünstiger zu beten, als er es je zuvor getan hat. Denn was könnte er schon sagen? Was geschehen ist, hat er gewollt. Er hat es geradezu herbeigezwungen und der Verführung schamlos schnell nachgegeben.
Er geht ins Badezimmer und stellt sich seinem Spiegelbild. Ein graues, angespanntes Gesicht schaut ihm entgegen. Er sieht sein schütter werdendes Haar, seine faulenden Zähne. Das Gespinst zarter Linien auf seinen Handflächen scheint sich in tiefe Gräben verwandelt zu haben. Noch zwei Jahre, dann ist er vierzig. Was soll das denn, sich in seinem Alter noch einmal zu verlieben? Es ist absurd. Das unbändige Glück über diese Erfahrung geht einher mit einer panischen Angst davor, es wieder zu verlieren. Er will mehr von ihr, braucht mehr von ihr. Nichts in seinem ganzen Leben hat ihn auf das hier vorbereitet.
Er nimmt seine Brille ab, dreht den Wasserhahn auf und schaufelt sich kaltes Wasser ins Gesicht. Der Schock lässt ihn zusammenzucken. Wie ein Mann, der gerade Gelüste entdeckt hat, die danach schreien, gestillt zu werden, lässt er sich ein Bad einlaufen und schüttet sich Kanne um Kanne Wasser über den Kopf. Als es sich über seinen Oberkörper ergießt und die dunklen Haare auf seiner Brust und seinem Rücken glättet, erschauert er vor Behagen.
Nachdem er sich angezogen hat, geht er nach unten in sein Arbeitszimmer, bereit, es durch seine Arbeit mit der Welt
aufzunehmen. Es ist immer noch zu früh fürs Frühstück, immer noch zu früh, um jemanden durch sein Klavierspiel aufzuwecken. Das Instrument ist ohnehin verstimmt. Es hat sich in der Hitze - oder in der ebenso hohen Luftfeuchtigkeit - verzogen. Wenigstens ist es jetzt kühl. Draußen wirft das Morgenlicht noch keine Schatten. Die Apfelbäume glänzen taufeucht.
Er betrachtet die Fotos seiner Familie auf dem Schreibtisch. Sie erscheinen ihm fremd, als habe jemand die Bilder über Nacht ausgetauscht. Das Schuldgefühl hockt wie ein plumper Vogel auf seiner Schulter, und seine Krallen bohren sich tief in seine Haut.
Er sucht Ablenkung in seiner Arbeit und nimmt ein leeres Blatt Papier heraus. Er greift zu einem gespitzten Bleistift und schiebt seine Brille auf die Stirn hoch. Dann zeichnet er mit gleichmäßigen Linien die Takte ein, wobei er darauf achtet, die Striche nicht einen Millimeter über oder unter die Notenlinien hinauszuziehen.
Kapitel 13
AUCH AN DEN darauffolgenden Tagen verstummt, immer zur gleichen Zeit, nachmittags das Klavier.
Angespannte Stille breitet sich über das Haus. Jekaterinas Kopf verkrampft sich auf ihrem Kissen, wappnet sich gegen Laute, die nicht kommen. Sie lauscht, wie der letzte Klavierton langsam aus der Luft verklingt. Wie eine Säure frisst sich die Stille durch ihren Körper und hinterlässt noch lange ein Brennen in ihren Eingeweiden.
Jeden Tag, wenn das Klavier abrupt verstummt, sträubt die Katze ihr Fell und macht einen Buckel; die Vögel legen in ihren Käfigen den Kopf auf die Seite; die Ohren der Hunde neigen sich in einen besorgten Winkel. Die Kinder erstarren für einen Moment und wechseln neugierige Blicke, verwundert über die anhaltende Stille, die den Nachmittag unterbricht.
Joseph und Marie werfen einander einen wissenden Blick zu. Beide verdrehen die Augen.
»Es hat wieder angefangen«, flüstert Marie.
»Das haben wir gerade noch gebraucht«, sagt Joseph.
Während der nächsten Wochen wiederholt sich jeden Nachmittag das gleiche Ritual. Das Klavier bricht mitten in einer Phrase ab, um ungefähr eine halbe Stunde später ein wenig schwungvoller wieder einzusetzen. Die Stille erzeugt einen Hohlraum, in den alles hineingezogen wird.
Im Laufe der Tage wächst dieser Hohlraum in Jekaterina an und wird zu einer Leere, die sie mit Sorge und Angst füllt.
Ein Teil von ihr möchte die Ursache für die bizarre Unterbrechung ergründen, ein anderer Teil jedoch schreckt vor dem zurück, was sie erfahren könnte. Unwissenheit ist ihr lieber als das mögliche Grauen. Inzwischen ist sie zu schwach, um mit den Konsequenzen des Wissens umgehen zu können. Die Stille wächst in ihr wie eine Wunde.
Igor steht derweil unter einem Bann. Coco schenkt ihm eine uneingeschränkte sinnliche Liebe, wie er sie mit Jekaterina nie zuvor erlebt hat. Ihre Leidenschaft, die in ihrer Freimütigkeit fast schon vulgär wirkt, wird durch keinen Rest bürgerlicher Skrupel gehemmt. Cocos erotisches Selbstvertrauen und ihre Experimentierfreude
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