Coco Chanel & Igor Strawinsky
Innern kommen muss. Sie riecht sich selbst, ihre eigene innere Fäulnis. Sie hat das Gefühl, schon tot zu sein. Ihr Haar fällt büschelweise aus, und jetzt fängt sie an zu verwesen. Das Gefühl erschreckt sie, sie muss kämpfen, sonst wird sie sterben.
Jeden Abend, bevor Igor, das Gesicht vom Ehebruch gerötet, in ihr gemeinsames Schlafzimmer kommt, zählt Jekaterina einige Tropfen ihrer Medizin auf einen Löffel ab. Der rote Klecks haftet mit zittriger Oberflächenspannung am Metall, und mit der gleichen zitternden Anstrengung bugsiert sie den Löffel ganz langsam in die dunkle Höhle ihres Mundes.
Kapitel 15
MITTE AUGUST ERHÄLT Coco endlich eine Nachricht von Ernest Beaux. Die Parfümmuster stehen zur Begutachtung bereit. Nachdem sie und Igor feierlich kindische Treueschwüre ausgetauscht haben, macht sie sich auf den Weg und fährt mit dem Zug erster Klasse hinunter in den Süden.
In der Stadt Grasse gibt es zahllose Parfümeure. Die ganze Region duftet süß, und im Umkreis von mehreren Kilometern haftet der Landschaft ein ganz besonderer Geruch an. Aber so viele Neugierige, wie die Stadt anzieht, so viele unbescholtene Einwohner sind auch fortgezogen. Nicht jeder erträgt den olfaktorischen Ansturm, dem die Häuser Tag und Nacht ausgesetzt sind. Eine Wolke aus süßlichen Düften hängt wie ein ständiges Leichentuch über den Straßen und breitet sich wie ein unsichtbarer Film über die Dächer. Es gibt kaum Wind, der der Region Erleichterung verschaffen könnte. Und wenn tatsächlich einmal eine erfrischende Brise von der Küste bläst, dann nur, damit gleich eine neue Welle von Aromen durch die Stadt wehen kann.
Coco riecht das Duftgemenge, als sie aus dem Zug steigt. Sie ist fasziniert von der Vorstellung, dass aus dieser Mischung verschiedenster Aromen ein einziger Geruchsstrang isoliert und herausgefiltert werden könnte, der anschließend, in Flaschen abgefüllt, ihren Namen tragen soll. Sie hat immer davon geträumt, ihren eigenen Duft zu haben und auf diese Weise ihr Zeichen in die Welt hinauszuschicken.
Aber ganz ruhig. Sie überstürzt wieder alles. Erst liegt noch eine Menge Arbeit vor ihr.
Am nächsten Morgen steht sie vor dem quadratischen Schaufenster und der schmucklosen Fassade von Beaux’ Parfümerie. Nervös wirft sie einen letzten Blick auf ihren Zettel und vergewissert sich, dass die Adresse darauf auch mit der des Hauses vor ihr übereinstimmt. Die Ladenglocke scheppert, und das Geräusch hallt noch nach, als der letzte Ton bereits verklungen ist.
Ein Mann kommt aus den hinteren Räumen an die Theke. »Madame?«
»Ich suche Monsieur Ernest Beaux.«
»Wie kann ich Ihnen helfen?«
»Mein Name ist Gabrielle Chanel.«
Beim Klang dieses Namens verwandelt sich der Mann vom freundlichen Ladenbesitzer in einen demütigen Untertanen kurz vor der Begegnung mit seiner Königin. Er hebt die Klappe der Ladentheke an und tritt durch die Lücke, um sie zu begrüßen. Sie schütteln einander die Hand, beide mit gleich starkem Griff und etwas länger, als notwendig wäre.
Wie Igor ist auch Beaux ein russischer Emigrant aus Sankt Petersburg, und Coco bemerkt, dass sein Französisch den gleichen abgehackten Akzent aufweist.
»Hier entlang, bitte.«
Er geleitet sie hinter die Theke und dann weiter in das Labor hinter dem Verkaufsbereich. Sein Haar ist grauer, als Coco erwartet hatte. Naiv hatte sie sich ihren Parfümeur als einen schneidigen jungen Mann vorgestellt. Ein buschiger Bart rahmt seinen breiten Kiefer ein. Seine Augen sind von zu viel Arbeit blutunterlaufen. Aber wohlwollend bemerkt sie seine sauberen Hände. Ein Ehering glänzt an einem seiner spatelförmigen Finger.
Beaux hingegen sieht, dass Coco jünger ist, als er gedacht hatte, und außerdem viel hübscher. Er ist beeindruckt von ihrem professionellen Auftreten, ihrer bestimmten Art und ihrer vornehm-zurückhaltenden Attraktivität.
Coco ist durch das allgegenwärtige Weiß des Labors einen Moment wie schneeblind. Aber dieser erste Eindruck wird rasch von einem weiteren verdrängt. Sie ist überwältigt von den zahllosen Düften, die nach dem Eintreten von allen Seiten auf sie einstürmen. Eine märchenhafte Geruchsfülle. Beim ersten Kontakt mit diesen ineinander verwobenen Aromen wird ihr fast ein wenig übel.
Sie setzt sich hin und sieht sich um. Eine hölzerne Ablage zieht sich nahtlos um den ganzen Raum. Vor der einen Wand stehen eine Reihe von Brennern, Kolben und Rührgeräten. Hier beugen sich auch zwei
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