Coco Chanel & Igor Strawinsky
Tuberose.«
»Ja.«
»Und irgendwo ist da auch noch eine tierische Note.«
»Ich bin beeindruckt.«
Sie schnuppert, vergleicht und überlegt ein weiteres Mal. Und plötzlich weiß sie es. Subtil, aber strahlend, wundervoll und in seiner Mischung geradezu himmlisch. So etwas hat sie noch nie zuvor gerochen. Eine leise Übelkeit vermischt sich mit Begehren. Dann geschieht etwas Seltsames. In ihrem beinahe tagträumerischen Zustand sieht sie plötzlich den Fußboden des Klosters und Waisenhauses in Aubazine vor sich, wo sie zur Schule gegangen ist. Ihre Erinnerungen verweilen einen Moment bei den Mosaikfliesen der Korridore mit ihrer unendlichen Wiederkehr der römischen Ziffer V.
Sie deutet auf die Schale, für die sie sich entschieden hat.
»Nummer fünf.«
Beaux sieht erfreut aus. Seine beiden Assistenten richten sich auf und nehmen die Schalen weg.
Wie eine schwebende, leicht schwingende Aura hüllt der Duft sie immer noch ein. Es dauert eine Weile, bis sie sich wieder erholt hat.
»Aber eine Sache verwirrt mich doch«, sagt sie.
»Ja?«
»Ich kann darin keine vorherrschende Note erkennen.«
»Weil es sie nicht gibt. In diesem Duft sind über achtzig Stoffe enthalten.«
»Wird er dadurch nicht weniger natürlich?«
»Sie wollen doch, dass Ihr Duft mehrere Stunden hält?«
»Ja.«
»Nun, das Problem bei den meisten Parfüms ist, dass sie
sehr schnell verfliegen. Sie müssen zu Beginn des Abends geradezu stinken, wenn der Duft bis zum Schlafengehen halten soll. Dieser hier hingegen«, er hebt einen der Flakons hoch, »zerfällt nicht und zersetzt sich nicht. Und ich verspreche Ihnen, dass Sie sich damit auch nicht überschütten müssen. Er ist viel stabiler. Ein Tropfen genügt.«
Sie sieht ihn zweifelnd an.
»Vertrauen Sie mir«, sagt er.
Sie erklärt sich einverstanden, das Parfüm an ihren Freundinnen auszuprobieren und es so einer Art Test zu unterziehen. Währenddessen soll Beaux eine kleine Menge davon herstellen, die sie als Geschenke verteilen will. Auf diese Weise möchte sie den Duft ganz unbemerkt in das Leben ihrer Kundinnen einsickern lassen. Den ersten Schub als Werbung abschreiben und dann zum entscheidenden Schlag ausholen! Sie hat schon eine vorläufige Liste von ungefähr hundert Personen zusammengestellt. Sie sollen den Duft als Erste bekommen. Beaux soll ihr die Muster schicken, dann wird sie sie zusammen mit einer kleinen Grußkarte verpacken lassen.
»Aber vorher müssen Sie mir alles zeigen. Wenn ich in dieses Projekt investieren soll, will ich den ganzen Prozess von Anfang bis Ende kennenlernen.«
»Selbstverständlich.«
Nach einer ausführlichen Besichtigung und zahlreichen Erklärungen verlässt Coco am späten Nachmittag Beaux’ Laden. Zuvor gab es noch einige Gläser Champagner, um ihre Zusammenarbeit zu feiern: Krug, ihre Lieblingsmarke.
Sie fühlt sich ein bisschen beschwipst. Das Pflaster unter ihren Füßen erscheint ihr fern und unwirklich. Das Echo ihrer Schritte wirkt nicht synchron mit dem Rhythmus ihrer Füße. Sie umklammert den Griff eines kleinen Handkoffers,
der zwei Dutzend Flakons mit ihrem Parfüm enthält. Die Fläschchen passen perfekt in das rote Samtgehäuse wie die beweglichen Einzelteile eines Musikinstruments.
Sie spürt, wie die Champagnerbläschen in ihr aufsteigen und sie schwindeln lassen. Sie widersteht der Versuchung, Igor anzurufen. Sie ist zu aufgeregt für eine sinnvolle Unterhaltung. Sie würde mit allem heraussprudeln, und er würde sie für albern halten. Aber sie vermisst ihn. Sie hat beschlossen, Diaghilew dreihunderttausend Francs für die Wiederaufführung des Sacre zu geben. Sie wird ihm das Geld anonym zukommen lassen, damit sich niemand durch das Geschenk ihr gegenüber verpflichtet fühlt. Jetzt, wo das Parfüm in den Startlöchern steht und der Salon so gut läuft, kann sie es sich leisten. Wahrscheinlich jedenfalls.
Beim Verlassen von Beaux’ Laden bemerkt sie etwas Eigenartiges. Eine dichte Wolke von Fliegen umschwirrt ihren Koffer. Viele von ihnen lassen davon ab, als sie den Koffer auf den Rücksitz des Taxis stellt. Ein paar weitere geben auf, als sie den Zug besteigt. Andere fallen, von unerfülltem Sehnen erschöpft, ab, als sie den Waggon wieder verlässt. Manche jedoch bleiben hartnäckig und sind immer noch da, als sie fast zwölf Stunden später in Bel Respiro eintrifft.
Kapitel 16
NACH EINER SERIE kraftvoller Gymnastikübungen springt Igor mit einem geschmeidigen Satz vom Boden auf. Obwohl seine Arme und
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