Coco Chanel & Igor Strawinsky
Beine vergleichsweise dünn sind, zeichnen sich die Muskeln deutlich sichtbar ab. Einen süßen Belastungsschmerz spürend, steht er, nur mit einer Unterhose bekleidet, vor dem Schlafzimmerspiegel, lässt den Kopf kreisen und neigt ihn anschließend mehrmals von einer Seite zur anderen.
Jekaterina beobachtet ihn angewidert. Diese Zurschaustellung seiner Gesundheit und Kraft scheint sie zu verspotten. »Kommt Coco heute zurück?«
»Morgen, glaube ich.«
»Ich dachte nur. Du siehst so glücklich aus.«
»Ich bin glücklich, weil heute ein schöner Tag ist und ich am Leben bin. Ist das so schlimm?«
»Nein, für dich ist das nicht schlimm.«
»Warum musst du immer so verbiestert sein?«
»Warum musst du immer so grausam sein?«
»Grausam? Du wirst gut versorgt. Du bekommst eine ausgezeichnete medizinische Betreuung …«
»Pah!«
»… die Kinder haben eine eigene Hauslehrerin …«
»Und wem soll ich für diese ganzen Wohltaten danken? Dem kleinen Fräulein Neureich etwa?«
»Ich finde nur, du solltest ein bisschen dankbarer sein, das ist alles.«
»Dankbar? Wie du meinst.«
Jekaterina dreht sich von ihm weg auf die andere Seite. Igor zögert, als wollte er noch etwas sagen, doch dann zuckt er mit den Schultern und geht ins Bad. Er lässt warmes Wasser ins Becken laufen und summt beim Rasieren leise vor sich hin. Er gibt sich gleichgültig, aber das ist er nicht. Sein Herz hämmert, und das liegt nicht an der Anstrengung. Er kann Streit nicht leiden. Er hasst es, wenn ihn jemand dazu bringt, sich zu schämen. Aber mittlerweile endet jedes Gespräch zwischen ihnen mit Bitterkeit. Was er auch sagt, ist falsch.
»Ich mache mich jetzt wieder an die Arbeit.«
»Geh nur!« Mit einem Wink scheucht sie ihn fort. Sie wünscht sich, er würde einfach verschwinden. Seine Gegenwart bedeutet für sie eine ständige Zurechtweisung. Sie kommt sich vor wie eine Gefangene. Selbst in der winzigsten Wohnung hat sie sich nie so eingesperrt gefühlt wie hier.
Als Igor die Schlafzimmertür hinter sich schließt, hat er das Gefühl, ein Land zu verlassen und in ein anderes einzutreten, wo das Klima gesünder ist und andere Gesetze herrschen. Es kommt ihm so vor, als erhielte er durch das Überschreiten der Schwelle neue verfassungsmäßige Rechte: das Recht auf Freiheit und Glück, selbst auf Stille, wenn er das möchte.
Unten trinkt er seinen Kaffee. Die Rufe der spielenden Kinder wehen vom Garten herein. In Verbindung mit dem Sonnenlicht und dem Geschmack seines Kaffees erscheinen ihm die Geräusche heute besonders lieblich. Kaffee genießt er morgens mehr als alles andere. Er mag sein scharfes Aroma, das Gefühl, wenn sich alles in seinem Mund zusammenzieht. Während er ihn in schnellen, kleinen Schlucken trinkt, blättert er durch die Zeitung auf der Suche nach den
Ergebnissen der Olympischen Spiele in Antwerpen. Seine Sympathien gelten vor allem den Turnern, denen er sich aufgrund seiner eigenen Vorliebe für diesen Sport verbunden fühlt. Es erfüllt ihn mit stiller Befriedigung, wenn sie erfolgreich sind.
Er arbeitet ohne Unterbrechung bis zum Mittagessen. Unablässig korrigiert er seine Partituren, die Brille auf die Stirn hochgeschoben und eine Lupe über die Noten haltend. Themen werden neu strukturiert, Motive umformuliert. Er probiert Akkordkombinationen aus, variiert die Intervalle zwischen den Noten, verändert Akkorde. Indem er verschiedene Phrasen durchspielt, gelingen ihm zufällige Kollisionen auf den Tasten. Er experimentiert mit Kombinationen von Durund Mollakkorden und erfreut sich an der Komplexität der entstehenden Stimmungen. Er hat begonnen, sich mehr und mehr der emotionalen Führung der Musik zu überlassen, ihr zu erlauben, ihm den Weg in vorher verschlossene Bereiche zu weisen, in Regionen, die er nie zuvor erkundet hat. So gewinnt er eine neue Flexibilität und Freiheit, eine Bereitschaft, neue Dinge zu wagen, eine ungewohnte Offenheit für Zufall und glückliche Fügung. Vielleicht ist es ja besser, nicht immer alles kontrollieren zu wollen, denkt er.
Er macht gute Fortschritte. Morgens ist er immer am Kreativsten deshalb arbeitet er so viel, dass er sich am Nachmittag entspannen kann.
Ein paar neue Bücher sind geliefert worden: die Werke von Sophokles, dazu neue Russisch-Französisch- und Russisch-Englisch-Wörterbücher. Während er die Seiten der Sophokles-Bände aufschneidet, genießt er das langsame, reißende Geräusch des mit Wasserzeichen versehenen Papiers und den Ledergeruch
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