Coco Chanel & Igor Strawinsky
der Buchrücken.
Er schlägt »Coco« in seinem Wörterbuch nach und entdeckt,
dass es eine umgangssprachliche Bezeichnung für Kokain ist, das wegen seiner Farbe auch »Schnee« genannt wird, außerdem bedeutet es Kokosnuss und in der Kindersprache Ei - Definitionen, die alle um die Farbe Weiß kreisen. Darüber hinaus bezeichnet der Name ein Getränk auf der Grundlage von Lakritzpulver: also schwarz. Er mag die monochrome Schlichtheit des Wortes. Weiß, das Wirbeln aller Farben, Schwarz, die Nicht-Farbe, und dazwischen ein ganzes Spektrum an Gefühlen.
Am späten Nachmittag klopft Soulima an die Tür seines Arbeitszimmers. Der Junge weiß, dass er nicht stören darf, wenn die Tür geschlossen ist. Das ist seit langem ehernes Gesetz. Aber jetzt, wo seine Mutter krank im Bett liegt, Coco in Grasse ist, die Dienstboten das Abendessen vorbereiten und seine Geschwister von der Hitze so benommen sind, dass sie keine Lust haben, mit ihm zu spielen, fühlt er sich unwiderstehlich von der verbotenen Tür angezogen. Sein Klopfen ruft ein gedämpftes Brummen hervor. Eingeschüchtert betritt er das Zimmer.
»Soulima? Was ist los?« Als Igor sieht, wie die blauen Augen des Jungen scheu zu ihm aufblicken, durchströmt plötzliche Zuneigung seine Brust.
»Mir ist langweilig.«
»Warum das denn?«
»Weil mir langweilig ist.«
Igor lacht über diese unwiderlegbare Logik. »Was möchtest du denn machen?«
Der Junge sieht, dass sein Vater guter Laune ist, und so fragt er lächelnd: »Können wir heute Abend wieder tanzen, Papa? Bitte.«
»Komm her«, sagt Igor und legt seine Bücher zur Seite. Er winkt seinen Sohn heran und nimmt den Zehnjährigen auf
den Schoß. »Du weißt doch, dass deine Mutter nicht gern tanzt …«
»Warum nicht?«, fragt Soulima.
»Weil ihr davon schwindlig wird.«
»Aber sie braucht doch nicht mitzutanzen.«
Igor weiß, dass die Kinder nur eine vage Vorstellung von Jekaterinas Krankheit haben. »Ja, aber wenn sie dabei zusieht, dreht sich alles in ihrem Kopf.«
»Dann sollte sie nicht zusehen.«
»Ich fürchte, ihre Entscheidung steht fest. Es gibt kein Tanzen mehr.«
»Aber warum denn nicht?«
»Es ist ohnehin zu heiß dafür.«
»Nein, heute Abend nicht mehr.«
»Es regt sie trotzdem auf.«
»Das ist nicht fair!«
»Soulima, es reicht.«
»Aber das ist es doch auch nicht.«
»Du weißt, dass deine Mutter sich nicht wohlfühlt und wir Rücksicht auf sie nehmen müssen.«
»Na ja, schon«, antwortet der Kleine schmollend.
»Braver Junge. Wir haben Mutter doch lieb, oder etwa nicht?«
» Ich schon.«
Der skeptische Ton in seiner Stimme lässt Igor aufhorchen.
»Was soll das denn heißen?«
»Nichts.«
Soulima sieht ihn mit ernster Miene an. Igor mustert ihn forschend. Hat er es erraten? Ahnt er etwa, was im Haus vor sich geht? Hat jemand etwas zu ihm gesagt? Aber er sieht so lieb und unschuldig und schüchtern aus. Das ist sicher nur eine Laune, mehr nicht. Trotzdem erinnert es ihn daran,
dass er in Gegenwart der Kinder vorsichtig sein muss. In diesem Moment wird ihm klar, dass sie auf gar keinen Fall, etwas von seiner Beziehung zu Coco erfahren dürfen. Es wäre entsetzlich, wenn sie es jemals herausfinden sollten.
Da ihm im Moment nichts anderes einfällt, womit er seinen Sohn auf andere Gedanken bringen könnte, schlägt er ihm vor, ihm ein paar Tricks auf dem Klavier beizubringen. Soulima macht gute Fortschritte und ist in dieser Hinsicht das begabteste von all seinen Kindern.
»Nein«, sagt der Junge und versteift sich. In der darauf folgenden Stille streicht Igor seinem Sohn über das blonde Haar. Soulima entspannt sich. Er lässt den Kopf gegen die Brust seines Vaters sinken. Igor beobachtet ihn aufmerksam. Das gleiche Stirnrunzeln. Es kommt ihm vor, als sähe er sich selbst als Kind.
»Was hältst du dann von einer Partie Schach?«
Soulima schaut gleichgültig zu ihm auf. Er lächelt schwach, aber dann scheint sich seine Laune zu bessern. Es ist nicht wichtig, was sie machen, solange er nur etwas Zeit mit seinem Vater verbringen kann.
»Einverstanden.«
Igor holt das Schachbrett von einem hohen Regal. Eine schwache Marmorierung überzieht die Quadrate. Er gibt Soulima eine längliche Holzdose. Der Junge schiebt den Deckel zur Seite, schüttelt die Spielfiguren heraus und stellt sie für die Schlacht auf. Ein schwarzer Bauer fehlt. Da er nirgends zu finden ist, muss ein kleiner brauner Knopf als Ersatz herhalten.
Igor nimmt eine schwarze und eine weiße Figur und
Weitere Kostenlose Bücher