Codename Hélène
Sinne war Nancy Wake offenbar zeitlebens. In Sydney besuchte sie die North Sydney Household School, die sie verließ, sobald sie sechzehn wurde. Was damals niemanden interessierte. Heute ist ihr Name auf der Ehrentafel der berühmten ehemaligen Schüler verzeichnet, darunter auch der Filmschauspieler Peter Finch.
Um dem nach wie vor strengen Regiment der Mutter zu entkommen, um nicht von ihren Regeln abhängig zu sein, um eigenes Geld zu verdienen, nahm Nancy Gelegenheitsjobs an. Arbeitete als Kindermädchen oder als Pflegerin in einer Nervenheilanstalt, wozu sie keine besondere Ausbildung brauchte. 1932 konnte sie alles hinter sich lassen, sich auf die Reise dahin begeben, wo sie Abenteuer erwarten würden statt Vorschriften und wo sie vor allem eines haben würde: Spaß. Abenteuer zu erleben und möglichst viel Spaß zu haben waren ihr bis ins hohe Alter stets wichtiger als geordnete Verhältnisse. Insgesamt müsse festgestellt werden, steht in der Beurteilung des britischen Geheimdienstes, dass Nancy Wake das Leben als einen einzigen großen Spaß betrachte – »seems to take life as a big joke« – , allerdings sehr viel vernünftiger sei, als das auf den ersten Blick den Anschein habe.
Weil ihr eine Tante aus Neuseeland 200 Pfund vermacht hatte, konnte Nancy Wake die beengten Verhältnisse, die sie auch tatsächlich einengten, endlich verlassen. Die Erbschaft war so viel wert, dass es bei ihren bescheidenen Ansprüchen für die Ausgaben eines Jahres reichen musste. Sie verließ Sydney. In ihren eigenen verklärenden Worten: »An einem sonnigen Dezembertag 1932 stand ich auf dem Deck eines Schiffes, das von Sydney nach Vancouver fuhr, schaute aufs Meer und war gespannt, was die Zukunft mir bringen würde.«
Von Kanada aus, wo sie drei Monate blieb, zog sie nach New York. Wie sie dort lebte, beschrieb sie, sobald es um Privates ging, ganz allgemein so, dass es eine aufregende Zeit gewesen sei. Von einem Job berichtete sie nichts. Noch herrschte Prohibition in den USA , war es verboten, Alkohol frei auszuschenken oder zu verkaufen. Was automatisch die Kreativität der Durstigen weckte, die den eigenen Schnaps zu Hause in Badewannen brannten und ihre Freunde zum Probetrinken einluden. Vor allem aber war es ein ideales Geschäftsmodell von gut organisierten Gangsterbanden, die quer übers Land mit der verbotenen Ware handelten und sich steuerfrei gewaltigen Mehrwert verschafften.
In den illegal betriebenen finsteren Speakeasy -Kneipen von New York hatten nur Mitglieder Zutritt. Nancy Wake dürfte deshalb bei ihren nächtlichen Ausflügen in Begleitung gewesen sein. Jedenfalls hat sie in jener Zeit »so viel Alkohol konsumiert wie nie mehr in meinem ganzen Leben. Doch ich war jung und meine Leber in einem guten Zustand.« Das blieb die offensichtlich, denn auch als über Neunzigjährige vertrug sie im Londoner Stafford Hotel, wo sie bis 2003 wohnte, locker ihre sechs Gin Tonics über den Tag verteilt und stand immer noch, wenn auch von einem Stock gestützt, fest auf den Beinen. Dafür gibt es nüchterne, glaubwürdige Zeugen.
Über ihren Aufenthalt in New York ist außer den besonderen Erfahrungen von der Widerstandsfähigkeit ihrer Leber nichts weiter bekannt. Im Frühsommer 1933 hatte sie offenbar genug von New York geschluckt und kaufte sich ein Ticket für die Schiffspassage übers weite Meer Richtung Europa. Erste Station nach der Ankunft in Liverpool war London, wo sie ein billiges Zimmer in einem Boarding House mietete und sich zudem an einem College einschrieb, das versprach, in wenigen Monaten die Grundzüge des Journalismus zu vermitteln. Ein merkwürdig anmutender Entschluss. Wie kam sie darauf? Ihre Erklärung war schlicht naiv: Sie ging davon aus, dass man in dem Beruf viel reisen durfte, in ferne Länder. Und das entsprach ihrer Abenteuerlust. In welchen Pubs sich die echten Journalisten trafen, fand die Amateurin durch ein paar Eigenrecherchen schnell heraus. Dort war sie möglichst oft. So viel wie die Männer vertrug sie allemal. Was die so bewunderten wie ihre Schönheit.
Als die verblüht schien, so etwa in den 1970 er-Jahren, beeindruckte sie immer noch mit ihrer verbliebenen Trinkfestigkeit. Nach einer Pressekonferenz in Hollywood, bei der Pläne vorgestellt wurden, ihr Leben zu verfilmen – woraus dann nichts werden sollte –, saßen sie und einige Journalisten noch in der Bar des Beverly Wilshire Hotel in Los Angeles. Kein Abstinenzler in der Runde. Nancy hatte bereits einige Whiskys
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