Codename Hélène
getrunken, aber das merkte man ihr wie üblich nicht an. Einer der Reporter schien weniger an der Résistance und ihrem Leben im Untergrund interessiert zu sein. Sondern eher daran, ob jenes Gerücht stimmen würde, dass sie mehr vertragen könne als ein trinkfester Mann, ohne je die Contenance zu verlieren. Er forderte sie heraus. Wer würde mehr Tequila vertragen, sie oder er? Unter seinen Kollegen galt er als standfester Trinker.
Nancy Wake, damals immerhin schon sechzig Jahre alt, wenn auch nicht die klassische Verkörperung einer würdigen alten Dame, nahm die Herausforderung an. Nach zwei geleerten Schnapsflaschen stand sie auf, dankte höflich für die Drinks und verließ die Bar auf eigenen Beinen. Ihr Gegner rührte sich da schon nicht mehr. Zwar hatte sie am nächsten Morgen einen gewaltigen Kater, doch ihr Herausforderer war, wie sie voller Genugtuung hörte, erst um die Mittagszeit aus einer tiefen Bewusstlosigkeit erwacht.
Sechs Monate hielt sie es 1933 in der britischen Hauptstadt aus, aber als sich die landesüblichen Novembernebel aufs Gemüt senkten, floh sie in die Stadt des Lichts, weil die symbolisierte, was sie eigentlich suchte: Abenteuer, Spaß, Glamour. Freunde für ein solches Leben zu finden fiel ihr nicht schwer. Nancy war jung und attraktiv, 1 , 76 Meter groß, trug liebend gern High Heels und auffällige große Hüte, hatte leuchtend blaue Augen, dunkelbraunes Haar und unendlich lange Beine. Gelernt hatte sie so richtig nichts, außer dem wenigen, was sie am College in London mitbekommen hatte. Im history sheet war als Beruf eingetragen: Nil , also keiner, und was da steht, entspricht auch ihren Aussagen.
In Paris gab die attraktive junge Frau als Beruf »Journalistin« an. Ältere, nicht so attraktive Journalisten, die über gute Verbindungen verfügten, nahmen sie in ihre Kreise auf und liebend gern mit bei Erkundungen des Nachtlebens. Bei nächstbester Gelegenheit verschafften sie ihr einen Termin beim International News Service. Sie stellte sich vor, und sie muss überzeugend gewesen sein, denn Nancy Wake wurde auf Probe engagiert und fortan nach Zeilenhonorar bezahlt. Davon musste sie leben, denn das Erbe der Tante war aufgezehrt. Zwar konnte sie für Hearst und die amerikanischen Zeitungen in englischer Sprache schreiben, doch von Monat zu Monat sprach sie auch besser Französisch. Sie fand bald den richtigen Ton in der ihr fremden Sprache. Nur ein leiser englischer Akzent sei noch festzustellen, bemerkte einer ihrer Ausbilder 1943 in England, hielt das aber nicht für weiter störend, weil ein Deutscher bei etwaigen Kontrollen bestimmt nichts merken würde.
Weltpolitische Ereignisse, kommentiert als mögliche Zeichen eines drohenden Kriegs, standen in den Leitartikeln der seriösen Presse, aber da war Nancy Wake nicht zu Hause. Natürlich hatte sie mitbekommen, was in Europa passierte, alles über die politischen Zustände in Deutschland gelesen und wusste, was die überwiegende Mehrheit der Deutschen als Glück empfand, Franzosen jedoch mit Sorge verfolgten, denn mit den Nachbarn diesseits des Rheins hatten sie in zwei Kriegen schlimme Erfahrungen gemacht. Nicht alle lehnten die Ideologie des Erbfeindes ab, wie sich herausstellen sollte, als der in Frankreich einmarschierte, nicht alle. Viele Franzosen aus dem konservativ-katholischen Bürgertum, zu viele, teilten den im Dritten Reich per Gesetz zur Staatsdoktrin erhobenen Antisemitismus, lehnten ebenso alle ab, die nicht in ihr autoritäres Weltbild passten – Freimaurer, Kommunisten, Zigeuner. Ihr reaktionäres Frauenideal – Küche, Kinder, Kirche – entsprach weitgehend dem der Nazis, mit Ausnahme der Verwurzelung im Katholizismus.
Zu den abendlichen Runden von Nancy Wakes Freunden in Paris stießen liberale jüdische Journalisten, die aus Deutschland ins Exil nach Frankreich geflohen waren, nachdem Meinungsfreiheit durch gesteuerte Propaganda ersetzt worden war und sie nicht nur ihren Beruf aufgeben mussten, sondern als Staatsfeinde galten. Nancy war klug genug zu wissen, dass sie ihnen intellektuell nicht gewachsen sein würde, sie hörte lieber zu. Sie wurde nicht nur akzeptiert, weil sie attraktiv war, sondern weil die »merkten, dass ich ebenso wie sie an die Ideale von Freiheit glaubte«. Die war im Deutschen Reich unter Todesstrafe gestellt worden. Bücher brannten auf Scheiterhaufen, Oppositionelle wurden in Konzentrationslagern eingesperrt, aus dem Land ihrer Väter vertrieben oder ermordet. Aufgrund der
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