Codename Merlin - 3
dort einige Gänge mit weiß getünchten Wänden entlang. Die Schritte zahlloser Mönche hatten die Steinplatten des Bodens im Laufe der Jahrhunderte glattpoliert und zugleich zahlreiche Furchen hinterlassen. Die Wände bestanden zum Teil aus Steinen, zum Teil aus Mauerwerk; dass sich das Baumaterial immer wieder änderte, ließ erkennen, welche Gebäudeteile erst zu einem späteren Zeitpunkt hinzugefügt worden waren. Zugleich waren sämtliche dieser Wände recht dick, und so war es im Stiftshaus kühl und völlig still.
Schließlich blieb ihr Führer vor einer weiteren Tür stehen. Kurz blickte er über die Schulter hinweg Staynair an, dann klopfte er an − auffallend behutsam.
»Herein«, war von der anderen Seite der Tür eine Stimme zu vernehmen, und so öffnete der Mönch die Tür und trat zur Seite.
»Ich danke dir, Bruder«, murmelte Staynair, dann ging er an ihm vorbei und bedeutete Merlin mit einer kurzen Kopfbewegung, ihm zu folgen.
Der Raum, den sie betraten, stellte offensichtlich ein Arbeitszimmer dar, auch wenn man es auf den ersten Blick auch für eine Bibliothek hätte halten können. Oder vielleicht eine übergroße Abstellkammer. Der leicht modrige Geruch von Papier und Tinte hing in der Luft, Bücherregale füllten fast den gesamten Raum aus, der an sich nicht zuletzt seiner hohen Decke wegen luftig und hell gewirkt hätte; sie standen so dicht, dass es fast schon bedrückend war, und der Schreibtisch, der unter dem einzigen Oberlicht in der Decke stand, war von allen Seiten von Regalen umgeben. Er wirkte fast wie eine Schneise, die man mit Gewalt in diesen Bücherurwald geschlagen hatte; doch diese ›Lichtung‹ schien fast zu klein für den Schreibtisch und die beiden Stühle, die davor aufgestellt waren.
Als Merlin die hohen Stapel aus Büchern und einzelnen Pergamenten sah, die überall im Zimmer aufgetürmt waren, kam ihm der Gedanke, diese Stühle dienten sonst als hilfreiche Ablageplätze für Nachschlagewerke und Schriftstücke. Er hatte nicht das Gefühl, dass diese beiden Sitzplätze ›rein zufällig‹ frei waren, gerade jetzt, da der Erzbischof und er hier so unerwartet erschienen.
»Seijin Merlin«, sagte Staynair, »bitte gestattet mir, Euch Pater Zhon Byrkyt vorzustellen, den Abt von Sankt Zherneau.«
»Pater«, begrüßte Merlin ihn und verneigte sich leicht. Byrkyt war ein recht betagter Mann, um einige Jahre älter als Staynair, der seinerseits auch kein Jungspund mehr war. In seiner Jugendzeit musste dieser Mann ein gutes Stück größer gewesen sein als Maikel Staynair, fast so groß wie Merlin selbst, womit er für Charis ein wahrer Riese gewesen sein musste. Doch das Alter und eine üble Rückgratverkrümmung hatte das geändert, und nun wirkte der Abt fast schmerzhaft gebrechlich. Er trug die grüne Soutane eines Oberpriesters, nicht das braune Gewand, in dem der Torwächter sie empfangen hatte. Und an der Soutane war deutlich der Federkiel von Chihiro zu erkennen, nicht etwa das Pferd von Truscott oder die Lampe von Bedard. Erstaunt kniff Merlin die Augen ein wenig zusammen.
»Seijin«, erwiderte der Abt. Seine Stimme klang, als sei sie einst sehr viel volltönender gewesen − passend zu seinem einst so massigen Leib; doch die Augen des Mannes waren immer noch klar und wachsam. Zugleich war sein Blick mindestens so stechend wie Merlins eigener, und in den braunen Tiefen dieser Augen schien eine erstaunliche Flamme des Eifers zu lodern. Er deutete auf die beiden Stühle vor seinem Schreibtisch. »Bitte, nehmt doch Platz. Ihr beide.«
Merlin wartete, bis Staynair sich einen Sitzplatz ausgewählt hatte, dann setzte auch er sich. Das Katana in seiner Scheide lehnte er aufrecht gegen Byrkyts Schreibtisch und hoffte, deutlich entspannter und ruhiger zu wirken, als er sich tatsächlich fühlte. Er brauchte keine PICA-Sensoren, um die sonderbare, fast erwartungsvolle Anspannung zu spüren, die sie alle hier umgab.
Einige Sekunden lang herrschte Schweigen, und die Anspannung wuchs, doch dann ergriff Staynair das Wort.
»Zunächst einmal«, sagte der Erzbischof, »bitte ich Euch um Verzeihung, Merlin. Ich bin mir sicher, Ihr habt bereits geschlussfolgert, dass ich mich eines gewissen Maßes der … man könnte wohl sagen: Irreführung schuldig gemacht habe, als ich Euch ›eingeladen habe‹, mich heute Nachmittag hierher zu begleiten.«
»Tatsächlich war mir der Anflug einer Vermutung bereits gekommen, Eure Eminenz«, gestand Merlin, und Staynair lachte
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