Codename Merlin - 3
dann, im letzten Fünftag, haben der Brigadier und ich einem neuen Trupp Marines bei Übungen mit Handgranaten zugesehen, und da ist mir dann der Gedanke gekommen, ganz einfach so, dass mir einfach kein Grund einfallen will, warum es unmöglich sein sollte, aus einer Kanone eben Granaten abzufeuern − nur dass die natürlich dann deutlich größer wären, und auch deutlich leistungsstärker.«
Wieder kniff Lock Island erstaunt die Augen zusammen. Wenn die Überlegung, man könne Kanonenrohre mit Zügen herstellen, schon neue Möglichkeiten eröffnete, so war das doch überhaupt nichts im Vergleich zu dem, was Seamount jetzt gerade vorschlug. Und dabei ging es nicht nur darum, Infanterie über extreme Entfernungen hinweg auszulöschen. Die Vorstellung, was eine ›Granate‹ von fünf oder sechs Zoll im Durchmesser einem Kriegsschiff mit Holzrumpf antun würde, war … erschreckend. Nein, sie war nicht nur ›erschreckend‹. Für einen erfahrenen Seeoffizier war diese Vorstellung zutiefst Furcht erregend. Bis zur Rotglut erhitzte Kanonenkugeln waren ja schon schlimm genug. Natürlich waren sie recht schwierig in der Handhabung, denn es bestand immer die Gefahr, dass sie sich durch den angefeuchteten Pfropfen brannte, der zuvor in das Rohr geschoben wurde, sodass die Kugel die Ladung der Kanone selbst entzündete − mit entsprechend unschönen Konsequenzen für die arme Seele, die gerade damit beschäftigt gewesen war, die Kugel mit dem Ladestock tiefer in den Lauf zu schieben. Dennoch konnten derartige Geschosse entsetzlich effektiv sein, weil eine rot glühende Eisenkugel von fünfundzwanzig oder dreißig Pfund Eigengewicht, die sich dann immer tiefer in die knochentrockenen Planken eines Kriegsschiffes fraß, durchaus das ganze Schiff in eine riesige Fackel verwandeln konnte. Doch wenn Seamount tatsächlich Explosivladungen abfeuern ließ − Explosivladungen, die man dann auch noch zuverlässig zur Detonation bringen konnte, dann wäre das noch ungleich schlimmer. Dabei war nicht nur der Brenneffekt von Bedeutung, sondern auch die Tatsache, dass ein derartiges Geschoss das ganze Zielobjekt im wahrsten Sinne des Wortes weit aufreißen würde − und zugleich würde damit auch noch reichlich weiteres Brennmaterial zur Verfügung stehen.
»Ah ja … haben Sie auch diesen Gedanken schon mit Seijin Merlin diskutiert?«, erkundigte er sich nach einem Augenblick nachdenklichen Schweigens.
»Bislang noch nicht, Sir. Ich hatte noch nicht die Gelegenheit.«
»Dann sehen Sie zu, dass Sie eine Gelegenheit finden, Ahlfyrd!« Lock Island schüttelte den Kopf. »Ich finde diese ganze Vorstellung tatsächlich zutiefst erschreckend, wie Sie sich wohl denken können. Aber wenn das wirklich möglich ist, dann möchte ich das auch wissen. Und zwar so schnell wie möglich!«
.VI.
Captain Merlin Athrawes’ Gemach, Erzbischöflicher Palast und Königlicher Palast, Stadt Tellesberg, Königreich Charis 12. Juni, im Jahr Gottes 143 Tellesberg-Enklave Safehold
»Wer auch immer dieses Tagebuch lesen mag, er sei gegrüßt im Namen des wahren Gottes.
Mein Name ist Jeremiah Knowles, und ich bin ein ›Adam‹. Ich habe am Morgen der Schöpfung auf Safehold zum ersten Mal die Augen geöffnet, und mein Verstand und meine Seele waren neu erschaffen, so rein und sauber wie die Welt, die mich umgab. Ich sah das Werk der Erzengel und Gottes Selbst, und mein Herz füllte sich mit Freude und Ehrfurcht.
Wie meine Gefährten, die anderen Adams und Evas, begegnete auch ich den Erzengeln. Ich sah den Segensreichen Langhorne und die Heilige Bedard. Und ich kannte Shan-wei, die Leuchtende, die stürzte.
Es gibt viele andere, die gleich mir die Erzengel sahen, die die Heilige Schrift hörten und lasen, so wie ich die Heilige Schrift hörte und las. Viele von uns haben die Zeitspanne gelebt, die einem Adam oder einer Eva vergönnt waren, und nun haben sie diese Welt verlassen, doch selbst jetzt gibt es von uns noch Hunderttausende − vielleicht gar Millionen −, die dieses einhundertdreiundvierzigste Jahr seit der Schöpfung erleben dürfen. Doch von all jenen Seelen hier in Tellesberg wissen nur ich und meine drei Gefährten − meine Gemahlin Evelyn Knowles, Evelyns Bruder Kayleb Sarmac und Kaylebs Gemahlin Jennifer Sarmac − das, was niemand der anderen sonst jemals erfahren hat.
Wir wissen, dass die Heilige Schrift eine Lüge ist … und dass es keine ›Erzengel‹ gibt.«
Das Wesen, das als ›Merlin Athrawes‹ bekannt war, saß in der
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