Codename Merlin - 3
dieser Gedanke bislang nicht gekommen war.
Weil der Commodore in seinen Aufzeichnungen für dich nichts darüber erwähnt hat, deswegen!, ging es ihm durch den Kopf.
»Gibt es weitere ›Datenanomalien‹ zwischen den beiden Listen?«, fragte er Owl nun. »Weitere Fälle, in denen Kolonisten mehr als einer Enklave zugeordnet scheinen?«
»Unbekannt, Lieutenant Commander«, erwiderte Owl ruhig und ohne jegliche Spur von Neugier. Merlin trieb es fast in den Wahnsinn.
»Also«, sagte er dann in einer Art und Weise, in dem jeder Mensch das Anzeichen gesehen hätte, jemand stehe hier kurz davor, die Geduld zu verlieren, »dann finde heraus, ob derartige Anomalien existieren. Jetzt, Owl!«
»Jawohl, Lieutenant Commander.«
Nichts im Tonfall der KI ließ vermuten, sie habe Merlins Ungeduld als solche erkannt − was das Ganze für Merlin natürlich noch schlimmer machte.
Doch wie auch immer die Unzulänglichkeiten der KI in Bezug auf ihre Persönlichkeit geartet sein mochten, Owl arbeitete wirklich schnell. Der Abgleich der beiden Listen dauerte weniger als zwei Minuten, obschon jede einzelne aus mehreren Millionen Namen bestand.
»Es gibt weitere Anomalien, Lieutenant Commander«, informierte die KI Merlin dann.
»Also …«, sagte Merlin zwanzig Sekunden später, »Anomalien welcher Art hast du entdeckt? Und wie viele sind es?«
»Sämtliche Anomalien fallen in die gleiche Kategorie wie die bereits erwähnten, Lieutenant Commander. Weitere Kolonisten wurden mehreren Enklaven zugeordnet. In allen Fällen waren die betreffenden Personen in Doktor Peis Liste für Alexandria vorgesehen. In der Liste von Administrator Langhorne sind sie verschiedenen anderen Enklaven zugeordnet. Insgesamt habe ich zweihundertundzwölf derartiger Anomalien entdeckt.«
»Ich verstehe«, sagte Merlin leise, und seine Frustration angesichts der mangelnden Spontaneität und Eigeninitiative der KI legte sich, als er über diese Zahl nachdachte.
Ich weiß, was sie im Schilde geführt hat, dachte er, und ihn beschlich ein Gefühl, das fast an Ehrfurcht grenzte. Mein Gott, sie hatte ein zweites Eisen im Feuer, und davon hat sie nicht einmal dem Commodore erzählt. Das ist der einzig mögliche Grund, warum er mir in seiner Nachricht nichts davon berichtet hat. Er legte die Stirn in Falten. Hatte sie das die ganze Zeit über schon geplant, oder ist ihr dieser Gedanke erst gekommen, nachdem sich die beiden offiziell getrennt hatten − wegen dieses angeblichen Zerwürfnisses? Und wie ist es ihr gelungen, die Aufzeichnungen zu manipulieren, ohne dass Langhorne und Bedard begriffen haben, was sie da getan hat?
Es konnte unmöglich jetzt noch irgendjemanden geben, der die Antwort auf diese Fragen kannte. Doch auch wenn Merlin nicht wusste, wie Doktor Pei Shanwei es geschafft hatte, so wusste er doch, was sie hier versucht hatte.
Er blätterte die abgespeicherten Seiten von Jeremiah Knowles’ Tagebuch durch, bis er die Seite gefunden hatte, nach der er suchte.
»… damals keine Vorstellung von der Wahrheit, ebenso wenig wie all die anderen Adams und Evas. Niemand von uns wusste von der geistigen Umprogrammierung, die Bedard auf Langhornes Anweisung hin durchgeführt hatte. Doch als Dr. Pei begriff, was Langhorne getan hatte, traf sie eigene Vorkehrungen. Sie oder die Angehörigen ihres Stabes in der Alexandria-Enklave konnten unmöglich die Erinnerungen an unser altes Leben zurückholen, die man uns geraubt hatte. Doch heimlich, ohne dass Langhorne und Bedard davon wussten, hatte sie drei NEATs aufbewahrt. Mit deren Hilfe konnte sie eine Handvoll der ursprünglichen Kolonisten informieren. Zu diesen gehörten auch wir.«
Merlin nickte. Natürlich, genau das hatte sie getan. Zweifellos war es riskant gewesen, diese Neuralen Erziehungs-, Ausbildungs- und Trainingsgeräte zu verstecken, gerade angesichts von Langhornes Plan und auch Bereitschaft, jegliche Opposition im Keim zu ersticken. Und sie tatsächlich auch bei den Kolonisten zur Anwendung zu bringen, musste sogar noch gefährlicher gewesen sein. Andererseits war es auch nicht riskanter, als sich offen zu weigern, die Aufzeichnungen der Wahrheit zu zerstören, die damals noch in Alexandria aufbewahrt wurden. Bedauerlicherweise hatte beides nicht ausgereicht.
Ich kann einfach nicht glauben, dass das alles hier schon seit über siebenhundert lokalen Jahren einfach nur herumgelegen hat, dachte er. Ich frage mich, ob noch andere ›Schläfer‹ die Zerstörung von Alexandria überstanden
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