Codename Merlin - 3
Dunkelheit seines unbeleuchteten Gemachs im Palast von Tellesberg. Die Augen hatte er geschlossen, nun betrachtete er vor seinem geistigen Auge die Seiten, die in seinem MolyCirc-Gehirn gespeichert waren, und versuchte alles zu begreifen und zu verarbeiten, was er an diesem Tag erfahren hatte.
Es fiel ihm schwer. Tatsächlich fiel es ihm sogar in mancherlei Hinsicht noch deutlich schwerer, all das zu verarbeiten, als seinerzeit Nimue Alban, als sie erfuhr, dass sie seit über acht Jahrhunderten tot war. Von all den Dingen, die er möglicherweise auf dieser Welt zu entdecken erwartet hatte, war dies doch das, womit er niemals gerechnet hatte.
Er öffnete die Augen und aktivierte den Restlichtverstärker seiner Optiken. Mühelos durchdrang sein Blick die − für ihn nun tageslichthelle − Dunkelheit und blickte durch das Fenster seines Schlafgemachs auf die schlummernde Stadt Tellesberg hinab. Er hatte nicht die Zeit gehabt, diesen unglaublich wertvollen, dokumentarischen Schatz zu lesen, den ihm Maikel Staynair und Zhon Byrkyt im Kloster Sankt Zherneau gezeigt hatte. Doch Merlin war genug Zeit geblieben, jede einzelne Seite des handschriftlichen Tagebuches zumindest einmal kurz zu betrachten. Er war nun einmal ein PICA und verfügte über ein echtes ›photographisches Gedächtnis‹. So hatte er mittlerweile mehr als sechs Stunden damit verbracht, nach und nach sämtliche der abgespeicherten Bilddateien durchzuarbeiten, während der Rest des Palastes von Tellesberg und auch die gesamte Hauptstadt der Ahrmahks in jenem Schlaf lag, den Merlin selbst nicht mehr benötigte.
»Owl«, sagte er leise und aktivierte seinen eingebauten Kommunikator.
»Jawohl, Lieutenant Commander«, erwiderte eine leise Stimme in seinem Inneren. Owl, der Ordones-Westinghouse-Lytton-Taktik-Computer − der sich immer noch in der Kammer befand, in der einst Nimue erwacht war − leitete das Signal über die sorgsam getarnten SNARCs an ihn weiter, die hoch über dem Gewässer schwebten, das als ›der Kessel‹ bekannt war.
»Hast du die Datenanalyse abgeschlossen?«
»Jawohl, Lieutenant Commander.«
»Hast du die entsprechenden Namen gefunden?«
»Das habe ich, Lieutenant Commander. Allerdings bin ich auf Datenanomalien gestoßen.«
»Datenanomalien?« In seinem Sessel richtete sich Merlin auf und kniff die Augen zusammen. »Datenanomalien spezifizieren!«
»Jawohl, Lieutenant Commander. Die Namen, nach denen zu suchen Sie mir aufgetragen haben, finden sich sowohl in den offiziellen Listen der Kolonialverwaltung, von denen Commodore Pei eine Kopie in meinem internen Speicher abgelegt hat, als auch in der Liste der Kolonisten, die Doktor Pei Shan-wei mir eingab. Allerdings sind die betreffenden Personen nicht in beiden Listen der gleichen Bevölkerungsenklave zugeordnet.«
»Nicht?« Die Furchen auf Merlins Stirn wurden noch tiefer.
»Das ist korrekt, Lieutenant Commander«, erwiderte Owl. Eine etwas leistungsfähigere KI hätte diese ›Datenanomalien‹ von sich aus deutlich ausführlicher erläutert. Owl hingegen sah dafür offensichtlich keinerlei Notwendigkeit.
»Welchen Enklaven wurden sie denn zugeordnet?«, fragte Merlin schließlich und rief sich − wieder einmal! − ins Gedächtnis zurück, dass Owls Selbst-Bewusstsein noch sehr … eingeschränkt war. Laut der Bedienungsanleitung sollte die heuristische Programmierung dieser KI Owl letztendlich zu deutlich ausgeprägterem Selbst-Bewusstsein führen. Dann würde sie auch endlich rhetorische Fragen als solche erkennen, notwendige Antworten geben, ohne ausdrücklich dazu aufgefordert zu werden, und sogar erforderliche Erklärungen abgeben oder auf möglicherweise bedeutsame unerwartete Datenkorrelationen hinweisen, ohne dass man zunächst ausdrücklich danach fragen musste.
Merlin konnte es kaum noch erwarten, endlich die Phase des ›letztendlich‹ zu erreichen.
»Laut der offiziellen Liste von Administrator Langhorne wurde Jeremiah Knowles, hier als ›Jere Knowles‹ bezeichnet, zusammen mit seiner Gemahlin, seinem Schwager und seiner Schwägerin der Tellesberg-Enklave zugewiesen. Laut der Liste von Doktor Pei wurden diese vier Personen für die Alexandria-Enklave ausgewählt.«
Merlin kniff die Augen zusammen. Er wäre niemals auf die Idee gekommen, Shan-weis Unterlagen über die Verteilung der Kolonisten mit den offiziellen Aufzeichnungen zu vergleichen; niemals hätte er vermutet, es könne Diskrepanzen geben. Jetzt allerdings fragte sich Merlin, warum ihm
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