Codename Merlin - 3
Religionsphilosophie und der Gedanken von Sankt Zherneau und Sankt Evahlyn war so orthodox, wie Mutter Kirche sich das nur wünschen konnte. Und das aus Gründen, die Euch mittlerweile gewiss einleuchten werden, nachdem Ihr nun die Gelegenheit hattet, das Tagebuch zu lesen. Ihr habt es doch wohl letzte Nacht gelesen, oder nicht, Seijin?«
»Ja«, bestätigte Merlin nur und blickte den Erzbischof nachdenklich an.
»Ich hatte schon vermutet, dass dies der Grund sei, warum Ihr im Kloster jede einzelne Seite so konzentriert betrachtet habt«, murmelte Staynair. Fragend hob Merlin eine Augenbraue, und der Erzbischof gestattete sich ein kleines Lächeln. »Die Fähigkeit eines Seijin, sich Dinge einzuprägen, die er nur ein einziges Mal zu Gesicht bekommen hat, gehört zu den Besonderheiten, die allen Seijin in den Legenden zugeschrieben werden. Tatsächlich vermute ich sogar, dass dies einer der Gründe für Euch war, selbst zu einem Seijin zu werden.«
»Ich verstehe.« Auch Merlin lehnte sich nun in seinem Sessel zurück und stützte die Ellbogen auf die Armlehnen; dann legte er die Fingerspitzen beider Hände aneinander. »Bitte, Eure Eminenz. Fahrt fort mit Eurer Erklärung.«
»Natürlich, Seijin«, stimmte Staynair zu und nickte; die Geste hatte zweifellos etwas Ironisches. »Schauen wir doch mal … wo war ich? Ach ja. Der einzige Aspekt, in dem die Lehren von Sankt Zherneau von den Vorgaben der Kirche abwichen, war die Art und Weise und das Ausmaß, in dem er und Sankt Evahlyn immer wieder Toleranz und Tolerierung betonten und sie zur Grundlage für all ihre Gedanken erklärten. Die Pflicht aller gottesfürchtigen Menschen, alle anderen Menschen als ihre wahrhaftigen Brüder und Schwestern im Herrn zu sehen. Mit jenen zu diskutieren, die sich im Irrtum befinden mögen, statt sie einfach nur zu verdammen, ohne sie verstehen zu wollen. Und sich stets der Möglichkeit zu öffnen, diejenigen, denen man nicht zustimmen könne, könnten sich letztendlich als im Recht erweisen − oder zumindest der Wahrheit näher, als man selbst zu Beginn dieses Disputes war.«
Der Erzbischof hielt inne und schüttelte den Kopf. Dann wandte er den Blick ab und blickte durch das offene Fenster seines Arbeitszimmers über die Dächer und Türme von Tellesberg hinweg.
»Es gibt einen Grund, warum Charis die Inquisition so lange beunruhigt hat«, sprach er schließlich mit ruhiger Stimme weiter, »und nicht alles davon entsprang nur dem Verfolgungswahn solchen Inquisitoren wie Clyntahn. Obwohl das Kloster Sankt Zherneau so klein ist, hat die Bruderschaft von Sankt Zherneau doch seit Generationen über Gebühr viel Einfluss hier in Charis.
Viele Mitglieder des hiesigen Klerus haben früher oder später eine Zeit lang im Kloster Sankt Zherneau verbracht. Tatsächlich habe ich mich sogar schon oft gefragt, was wohl geschehen wäre, wenn die Inquisition unseren eigenen Klerus im gleichen Maße überall auf der Welt zum Einsatz hätte bringen können, wie sie das auf dem Festland zu tun vermögen. Zum einen vermute ich, dass sie dann von Sankt Zherneaus … Einfluss erfahren hätte, wenn mehr der hier ausgebildeten Priester in Gemeinden auf dem Festland eingesetzt worden wären. Ganz zu schweigen davon, was geschehen wäre, wenn die ranghöheren Posten der Kirche hier in Charis weitestgehend durch Priester aus anderen Ländern besetzt worden wären. Glücklicherweise hat der Zweifel an der charisianischen Orthodoxie, wie sie die Inquisition schon immer gehegt hat, die Kirche davon abgehalten, das Risiko einzugehen, andere Gemeinden unserem ›verderblichen Einfluss‹ auszusetzen, daher wurden nur wenige Mitglieder der hiesigen Priesterschaft zu Kirchen jenseits der Grenzen von Charis versetzt. Und die Tatsache, dass es immer wieder schwierig war, ranghohe Männer der Kirche dazu zu bringen, ihren Dienst hier draußen zu versehen, am Rand der Welt sozusagen, hat sich ebenfalls häufig zu unseren Gunsten ausgewirkt. Nicht zuletzt, weil dadurch keiner der wenigen wahrlich ranghohen Kirchenmänner, die überhaupt nach Charis gesandt wurden, jemals in Erfahrung gebracht hat, welche Rolle die Bruderschaft von Sankt Zherneau hier im Königreich und in diesem Erzbistum wirklich spielt.«
»Und das wäre, Eure Eminenz?«, fragte Merlin leise.
»Subversivkräfte«, antwortete Staynair unumwunden. »Nur sehr wenige der ranghöchsten Brüder wissen überhaupt von der Existenz des Tagebuchs von Sankt Zherneau oder eines der anderen Dokumente.
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