Codename Merlin - 3
Abgesehen von diesen wenigen hat niemand von einem Buch namens Die Geschichte der Terra-Föderation je auch nur gehört, ebenso wenig von einem Dokument, das als Unabhängigkeitserklärung bezeichnet wird. Was jedoch jedes Mitglied der Bruderschaft von Sankt Zherneau gelehrt wird, das ist, dass jedes Individuum für seine oder ihre persönliche Beziehung zu Gott eigenständig verantwortlich ist. Die Inquisition würde diese Lehre gewiss als verderblich ansehen, obwohl die Heilige Schrift genau das besagt. Denn, Seijin Merlin …« − der Erzbischof wandte den Blick wieder vom Fenster ab, und als er Merlin nun anschaute, wirkten seine Augen erstaunlich dunkel, sein Blick sehr stechend − »… eine persönliche Beziehung setzt Toleranz ebenso voraus wie die Möglichkeit, Fragen zu stellen. Dazu gehört auch die persönliche Suche nach Gott, das Bedürfnis, für sich selbst diese Beziehung zu Ihm zu verstehen, ganz aus sich selbst heraus, nicht nur durch ewiges Wiederkäuen offizieller Lehrsätze und Katechismen.«
Langsam und bedächtig nickte Merlin, als er spürte, wie nach und nach bislang völlig unerwartete Puzzlesteine an die richtige Stelle fielen. Das also war die Erklärung − oder zumindest Teil der Erklärung − für die Offenheit des Landes und seiner Gesellschaft, die Nimue Alban angezogen hatte, als sie auf der Suche nach einem geeigneten Ausgangspunkt für die Erfüllung jener Aufgabe gewesen war, die man ihr übertragen hatte.
»Fast jeder Bruder von Sankt Zherneau ist sich bewusst, dass unsere Betonung der persönlichen Beziehung zu Gott vor den Augen der Inquisition keinen Gefallen fände«, sprach Staynair weiter. »Aber so weit wir wissen, hat noch kein einziger von ihnen jemals die Aufmerksamkeit der Inquisition auf die Philosophie von Sankt Zherneau gelenkt. Und das, Merlin, liegt daran, dass fast jeder Mensch in sich eine Stimme trägt, die danach schreit, Gott kennen zu wollen. Eine persönliche, direkte Beziehung zu ihm zu haben. Die Bruderschaft von Sankt Zherneau − alle Brüder von Sankt Zherneau − haben diese Quelle des persönlichen Glaubens und des Gottvertrauens in sich selbst erkannt. Und auch wenn wir niemals ausdrücklich auf dieses Thema eingehen, wissen wir doch alle, dass es sowohl beschützt wie auch weitergegeben werden muss.«
»Und zugleich stellt das auch die erste Verteidigungslinie dar, nicht wahr, Eure Eminenz?«, warf Merlin ein.
»Natürlich.« Der Scharfsinn, den Merlin hier gezeigt hatte, brachte den Erzbischof dazu, die Lippen zu einem schiefen Grinsen zu verziehen. »Wie ich schon sagte, nur wenige der Brüder haben jemals die ganze Wahrheit um Sankt Zherneaus Schriften in Erfahrung gebracht. Doch indem sie jene Fragmente von Sankt Zherneaus Lehren beschützen und bewahren, die ihnen bekannt sind, beschützen und bewahren sie zugleich auch all das, was sie nicht wissen. Aus Gründen, die Ihr gewiss verstehen werdet, ist es unbedingt erforderlich, die Anzahl derer, denen die ganze Wahrheit bekannt ist, überschaubar klein zu halten. Im Laufe der Jahrhunderte hat das immer ein Problem für uns dargestellt, denn es widerstrebt uns, diejenigen zu täuschen, die doch wahrlich unsere Brüder sind, selbst wenn diese Täuschung auch nur darin bestehen mag, ihnen nicht die ganze Wahrheit kundzutun. Und doch blieb uns keine andere Wahl, und so hat die überwiegende Mehrheit der Bruderschaft unser Ziel immer als schrittweise Umgestaltung gesehen − das Bemühen, den Klerus zu lehren, wahrlich den Seelen der Kinder Gottes zu dienen, nicht dem Reichtum und der Macht, die Mutter Kirche bringen mag.
Selbst diese Aufgabe war natürlich im Laufe der Jahre alles andere als gefahrlos. Aber viele aus unseren Reihen, von denen die weitaus meisten nicht wissen, dass Zherneaus Tagebuch existiert, sind in der hiesigen Kirche recht weit aufgestiegen, und von diesen Posten aus haben sie den anderen Brüdern von Sankt Zherneau stets Schutz und Unterstützung zukommen lassen. Und das ist natürlich einer der Gründe, warum ein so großer Teil unserer hiesigen Priesterschaft bereit war, unseren Bruch mit dem Rat der Vikare zu unterstützen.«
»Auch das verstehe ich«, gab Merlin zu.
»Versteht mich nicht falsch, Merlin«, sagte Staynair ernsthaft. »Als die Siegel an Zherneaus Tagebuch damals, vor vierhundert Jahren, erbrochen wurden, war das für den damaligen Abt zutiefst schockierend. Nur sein eigener, tief verwurzelter Glaube an die Lehren Sankt Zherneaus hat ihn davon
Weitere Kostenlose Bücher