Codename Merlin - 3
war das, was Trynair sagte, zugleich auch sehr wohl wahr, und der Kanzler war vermutlich der Einzige von ihnen allen, der vielleicht tatsächlich mit Clyntahn würde umgehen können.
Der Schatzmeister streckte die Hand aus und zog das erste der Dokumente näher zu sich. Natürlich brauchte er sich den Inhalt nicht noch einmal durchzulesen. Dieser hatte sich ihm bereits unauslöschlich ins Gedächtnis gebrannt. Langsam und bedächtig fuhr Duchairn mit einer Fingerspitze über die zahlreichen Siegel, die an dem Schreiben befestigt waren.
Unter anderen, gewöhnlicheren Umständen wäre das bereits außergewöhnlich genug gewesen. Die Sprache war die gleiche, die schon Dutzende Male zuvor − Tausende Male zuvor − verwendet worden war, um das Ableben eines Monarchen, Herzogs oder anderen Feudalherren kundzutun und zu erklären, ein rechtmäßiger Erbe trage nun den betreffenden Titel. Bedauerlicherweise waren die Umstände alles andere als gewöhnlich, denn der betreffende Monarch, Haarahld VII. von Charis, war nicht etwa eines natürlichen Todes gestorben.
Und dann ist da noch dieser eine, winzige Unterschied zwischen diesem Erbfolgeschreiben und allen anderen zuvor, ging es Duchairn durch den Kopf, und erneut ließ er seine Fingerspitze über das größte und aufwändigste der Siegel wandern. Sowohl von Rechts wegen als auch allen Traditionen gemäß war keine Erbfolge gültig oder rechtsverbindlich, solange sie nicht durch Mutter Kirche bestätigt wurde − mit anderen Worten: durch den Rat der Vikare. Doch dieses Erbfolgeschreiben hier trug bereits das heilige Siegel von Mutter Kirche, und unwillkürlich wanderte Duchairns Blick zu dem zweiten − und seines Erachtens ungleich gefährlicheren − Erbfolgeschreiben hinüber.
Höflicher hätte man diese Schreiben nicht formulieren können. Niemand konnte darin auch nur einen einzigen Satz, einen einzigen Wortlaut benennen, den man als offene Herausforderung hätte bezeichnen können. Und doch war das Siegel, mit dem das erste Erbfolgeschreiben bestätigt wurde, das des Erzbischofs von Charis, und in den Augen von Mutter Kirche gab es derzeit keinen Erzbischof von Charis. Erayk Dynnys, der dieses Amt bekleidet hatte, war erst kürzlich dieses Amtes enthoben worden und erwartete nun seine Hinrichtung − wegen Hochverrats, zahlreicher Amtsvergehen und der Begünstigung der Ketzerei. Der Rat der Vikare hatte bislang noch nicht einmal über einen möglichen Nachfolger nachgedacht, doch im Königreich Charis war genau das offensichtlich bereits geschehen … und eben das stellte auch das zweite Erbfolgeschreiben unmissverständlich klar.
Es war, so freundlich es auch formuliert sein mochte, nichts anderes als eine Kriegserklärung an die Kirche des Verheißenen. Und nur für den Fall, dass es noch irgendjemandem entgangen sein sollte, gab es auch noch das dritte Dokument … das Original des Schreibens, das Staynair Großvikar Erek gesandt hatte.
Duchairn war sich sicher, dass die Höflichkeit, mit der man diese beiden Erbfolgeschreiben abgefasst hatte, dieser Kontrast zwischen traditioneller Ausdrucksweise und Terminologie auf der einen Seite und Staynairs leidenschaftlichem ›Brief‹ auf der anderen, voll und ganz beabsichtigt waren. Diese alltägliche Normalität, von der die beiden ersten Schreiben zu künden schienen, betonte nicht nur die unbändige Heftigkeit von Staynairs Anschuldigungen, sondern besagte auch eindeutig, dass Charis die Absicht hatte, sich in Zukunft ganz alleine um seine persönlichen Angelegenheiten zu kümmern, ohne auch nur im Mindesten auf die Wünsche oder Befehle der Kirche zu achten.
Nein, nicht einfach nur trotzen. Das genau war der Grund, warum man diese Erbfolgeschreiben in eben jener Form abgefasst hatte: Sie waren der Beleg dafür, dass Charis sich darauf vorbereitete, Mutter Kirche zu ignorieren − und in vielerlei Hinsicht war das noch ungleich gefährlicher.
Niemals zuvor in der gesamten Geschichte von Safehold hatte es ein weltlicher Herrscher gewagt, einen durch ihn selbst ausgewählten Mann zum obersten Prälaten seines Reiches zu ernennen. Niemals. Die Aufgabe oblag einzig und allein dem Rat der Vikare, auch wenn Duchairn sehr wohl von den hartnäckigen Gerüchten wusste, in ihrer Tradition habe Mutter Kirche bei Weitem nicht immer diese Sicht der Dinge vertreten.
Doch hier ging es nicht um eine rein hypothetische Zeit, die vielleicht dereinst, vor Jahrhunderten, einmal existiert haben mochte. Hier ging es um die
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