Codewort Geronimo - der Augenzeugenbericht zum Einsatz der Navy-SEALs gegen Osama bin Laden
befanden sich auf erdsynchronen Umlaufbahnen über Südafghanistan. Einer von ihnen machte Fotos beziehungsweise Videos im sichtbaren Spektrum, aber auch im ultravioletten und infraroten. Ein anderer Satellit war für die Kommunikation zuständig, ein dritter für Wetterberichte und -vorhersagen und der vierte, ein massiger Apparat von der Größe eines Greyhound-Busses, konnte das alles, nur besser. Mit diesen Augen aus dem Orbit konnte Bill McRaven vom Weltraum aus das Gesicht eines Menschen erkennen, wenn dieser nach oben schaute.
Es war der größte Satellit, der fantastische KH-12 „Keyhole“, der die ersten hochauflösenden Bilder des seltsamen, einsamen Gehöfts am staubigen Stadtrand von Abbottabad aufgezeichnet hatte. Als sich die Belege dafür mehrten, dass es sich um das Versteck von Osama bin Laden handelte, fotografierte die riesige Kamera von Keyhole einen Mann, der allein hinter sechs Meter hohen Mauern im Garten spazieren ging. Auf Bildern von KH-12 wurde bin Ladens Schatten gemessen.
Von den Bergen her wehte der Wind – ein Fallwind, mit dem in J-bad so sicher zu rechnen war wie mit dem Sonnenuntergang. McRaven hörte die Düsenmotoren eines Flugzeugs, die am anderen Ende der Startbahn in zweieinhalb Kilometern Entfernung aufheulten. Das Heulen wich einem tiefen Grollen, als für den Start voller Schub gegeben wurde.
Über die Startbahn huschte ein flaches, dunkles Etwas, das auf den ersten Blick aussah wie ein fliegender Keil. Es war der dekonstruktivistische Eindruck von einem Flugzeug – als würden Tragflächen einfach alleine starten. McRaven verfolgte, wie das deltaförmige Objekt die Startbahn hinunterraste. Als es abhob, konnte er das weiße Glühen von Nachbrennern sehen, eingerahmt von Titan-Schubvektoren. Die Auspuffmündungen waren rechteckig und strahlten so, dass es aussah, als würden zwei erleuchtete Fenster eines Hauses in den Himmel steigen.
Dieses Wunder der Technik war eine „Sentinel“-Drohne vom Typ RQ-170. Anders als ihre berühmten Cousinen, die Predators und die Grey Eagles, war die Sentinel nicht bewaffnet. Ihre Verteidigung bestand darin, dass sie für Radar unsichtbar war und schneller flog als jeder Jäger, der sie ins Visier nehmen könnte. Die RQ-170 waren immer noch ein streng gehütetes Geheimnis und durften nur nachts fliegen. In den nächsten sechs Stunden würde dieses unbemannte Überschall-Spionageflugzeug über Abbottabad kreisen und in Echtzeit Video- und Audioaufzeichnungen von den SEALs am Zielobjekt übertragen. Die Crews nannten die Sentinel „the Beast of Kandahar“. Heute Nacht würde eine zur Unterstützung der Operation Neptune’s Spear eingesetzte RQ-170 das Rufzeichen „Beast“ verwenden. Ihr Kontrollfahrzeug und die Piloten würden auf die treffende Bezeichnung „Beastmaster“ hören. Die Drohne war mit großer Geschwindigkeit senkrecht in die Höhe gestiegen, auf den dunkelsten Teil des Himmels zu, und verschwand.
McRaven ging zum JOC zurück. Ein weiterer Grund für den kleinen Spaziergang war gewesen, dass er den Führern der Einsatzeinheiten und dem kommandierenden Offizier von SEAL-Team 6, Scott Kerr, Zeit geben wollte, um mit ihren Leuten zu reden. Die Kommandeure der beiden Red-Squadron-Einsatzgruppen, Frank Leslie und Rich Horn, würden ebenfalls ihre einsatzspezifischen Informationen erteilen. Mel Hoyle, Master Chief des Red Squadrons, würde die Ausrüstung jedes eingesetzten SEALs prüfen, bevor dieser in die „Chill“-Phase ging – eine Stunde, in der sich die Einsatzkräfte vor dem Start entspannen und sammeln konnten.
Der Einsatz war ursprünglich schon für die vorausgegangene Nacht geplant gewesen, den 30. April also, aber aufgrund der Wolken über dem Zielobjekt hatte sich die Mission um 24 Stunden verschoben. So ein Aufschub war für ein einsatzbereites Team schwer zu verkraften, doch er gab dem Red Squadron einen zusätzlichen Tag zum Üben, und Det Alpha konnte dafür sorgen, dass alles reibungslos funktionierte. Nun war alles parat, an Ort und Stelle und einsatzbereit.
In den letzten Stunden vor dem Einsatz kamen den Planern des JSOC tatsächlich Bedenken, ob es sich bei dem Anwesen in Abbottabad um eine Falle handeln könne. Viele dachten, der fortgesetzte Einsatz Abu Ahmed al Kuwaitis als Kurier sei schlicht ein operativer Fehler. Doch al-Qaida hatte zehn Jahre lang keine Fehler gemacht. War es eine List? Plante al-Qaida, den zehnten Jahrestag des 11. September zu begehen, indem sie ein SEAL-Team vom
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