Codewort Rothenburg
spät geworden. Er blickte auf die Küchenuhr. Viertel nach elf. Das Verhör dieser Hure hatte ihn aufgewühlt. Es war ihm vorgekommen, als stünde er neben sich. Hatte er sie tatsächlich geschlagen? Wie weit wäre er gegangen, wenn sie weiter geschwiegen hätte? Hätte er ihr das Gesicht zerschnitten? Er war sich nicht sicher. Als er die Frau aus dem Raum führte, beobachtete er den Blick des Wachtmeisters. Keine Reaktion. Im Gegenteil, er griff Emma Gutjahr brutal am Arm und führte sie ab. Auf dem Flur begegnete ihnen Rösen. Auch er war nicht erstaunt über die Blessuren im Gesicht der Frau. Brutalität gehörte zum Polizeialltag. Dabei war Emma Gutjahr nicht einmal eine Verdächtige, allenfalls eine Zeugin, und selbst das stand nicht fest. Vielleicht hatte sie mit dem Mordfall Dora Zegg überhaupt nichts zu tun. Dauts Bestürzung war aber längst ohnmächtiger Wut gewichen. Die kleine Nutte hatte bis zum Schluss gelogen, denn in den Akten der Sittenpolizei gab es kein Bordell in der Giesebrechtstraße, und den Kollegen entging nichts, was in der seichten Unterwelt Berlins passierte. Als Daut zwei Mal nachfragte, bekam er zur Antwort:
»Wenn wi r das Etablissement nicht kennen, existiert es auch nicht.«
Daut ärgerte sich über die Überheblichkeit der Kollegen, aber als Rösen meinte, morgen sei auch noch ein Tag und jetzt sollten sie lieber ein Bier trinken gehen, willigte er ein. So waren sie, wie so oft in den vergangenen Monaten, in Rösens Stammkneipe gelandet. Das »Rübezahl« lag in der Kanonierstraße, einen kurzen Spaziergang von den Büros am Werderschen Markt entfernt. Trotz der Nähe zu den Ministerien für Post, Finanzen, Ernte und Landwirtschaft sowie dem Auswärtigen Amt verliefen sich nur selten Staatsbedienstete in das kleine, rauchgeschwängerte Lokal. Von den Mitarbeitern der Reichskanzlei ganz zu schweigen. Ihnen war es hier nicht fein genug. Daut mochte die Kneipe. Der Wirt stammte aus Schlesien, genau wie Rösen. Und wie die Hälfte der Berliner, dachte Daut, so oft begegnete einem in der Reichshauptstadt ihr Dialekt mit seinen vielen ans Wortende angehängten a-Lauten. Die Kneipe war Rösens Wohnzimmer. Seit ihn seine Frau vor einem Jahr wegen eines anderen verlassen hatte, wohnte er in einem möblierten Zimmer zur Untermiete. Statt selbst zu kochen, ließ er sich im »Rübezahl« mit heimatlichen Genüssen verwöhnen und ertrank seinen Liebeskummer und sein Heimweh nach Breslau.
Wie viele Mollen hatte Axel getrunken? Drei? Oder waren es vier? Auf jeden Fall spürte er sie, denn er hatte den ganzen Tag kaum etwas gegessen. Obwohl im Rübezahl immer das eine oder andere ohne Bezugsschein auf der Speisekarte stand, und so sehr ihn die Speisen auf Rösens Teller auch anmachten, dafür wollte er nicht auch noch sein Geld ausgeben. Es reichte schon so hinten und vorne nicht.
Aus dem Kinderzimmer drang ein Lichtschein in die ansonsten dunkle Wohnung. Er öffnete die Tür und spähte hinein. Walter war noch wach.
»Wo ist Mutter?«
»Im Bett, es ging ihr nicht gut. Ist das bei jeder Frau so, wenn sie ein Baby bekommt? Werden alle so komisch?«
Daut blieb an der Tür stehen, Walter sollte seine Fahne nicht riechen.
»Wie meinst du das?«
»Manchmal sagt Mami stundenlang keinen Ton. Sitzt einfach nur da. Und wenn ich sie was frage, hört sie nicht richtig zu. Hoffentlich wird das besser, wenn das Baby da ist.«
»Bestimmt! Ganz bestimmt, Walter. Jetzt mach das Licht aus. Du musst schlafen.«
Daut tappte im Dunklen in die Küche und knipste die Stehlampe an. Er schnitt sich einen ordentlichen Kanten Brot ab, dazu ein Stück Speck. Was würden sie nur machen, wenn er nicht der Sohn eines Bauern wäre? Irgendetwas zu essen fiel immer für sie ab. Papa sollte nur aufpassen, dass er sich nicht eines Tages beim Schwarzschlachten erwischen lässt. Damit war nicht zu spaßen, und Daut fürchtete, dass alles immer knapper würde, je länger der Krieg andauerte. Wie im letzten Krieg. Da gab es am Ende auch nichts mehr zu beißen. Daut kaute bedächtig, wie es ihm seine Mutter beigebracht hatte. Jeden Bissen zehn Mal. Als er fertig war, ging er zum Waschbecken und pinkelte. Gerne hätte er einen Schluck Wasser getrunken, aber der Gedanke an den abgestandenen, ekligen Geschmack vertrieb den Durst. Er schnallte die Prothese ab und betrachtete die roten Druckstellen. Sein Stumpf schien in letzter Zeit empfindlicher zu sein. Er sollte den korrekten Sitz der Ersatzhand prüfen lassen, spätestens
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