Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
Vom Netzwerk:
Tisch stand, aber ich war bei Erna und Gustav.«
    »Schon wieder«, brummte Daut. »Soll das jetzt jeden Sonntag so gehen?«
    Warum gelang es ihm nicht, einen verbindlichen Ton zu finden? Luise blies in den heißen Kaffee.
    »Ja, Axel, das kann sein. Und du solltest mitkommen. Dann könntest du es mit eigenen Ohren hören.«
    »Was gibt es bei den beiden Alten schon zu hören?« Wieder dieser schneidende Ton. Luise schien ihn nicht zu bemerken.
    »Dieser Ha...«, Luise schluckte den Rest des Satzes herunter, »also einer der regelmäßigen Gäste bei den Neebs ist ein hohes Tier im Reichsluftfahrtministerium. Was der über eure Einsatzgruppen erzählt hat ...«
    Sie beendete den Satz nicht, sondern schlug die Hände vor das Gesicht. Daut stand auf und nahm sie in den Arm. Er wollte seine Grobheiten wieder gutmachen.
    »Es ist Krieg, Luise. Da geht es nicht ohne Grausamkeiten.«
    Luise entwand sich seinen Armen.
    »Hier geht es nicht um Krieg. Im Krieg kämpfen Soldaten gegen Soldaten.«
    Sie schaute mit rotgeränderten Augen zu ihm auf. Unvermittelt streichelte sie über seine Handprothese und sagte mit weicherer Stimme:
    »So, wie du den Krieg erlebt hast.«
    Als wäre das Stück Holz an seinem linken Arm kochend heiß, zog sie ihre Hand zurück und wandte sich von Axel ab. Ihre Stimme wurde wieder hart.
    »Weißt du, was jetzt im Osten passiert? Da ermorden Polizisten wie du Zivilisten.«
    Daut hielt sich die Prothese, als hätte er einen Stromschlag bekommen.
    »Aha, so etwas weiß also jemand, der im Reichsluftfahrtministerium arbeitet. Die haben ja auch damit zu tun. Du solltest besser aufpassen, was du sagst, Luise!«
    »Der Mann weiß jedenfalls mehr als du und ich. Er weiß, welche Verbrecher da oben sitzen.«
    »Was soll das, Luise. Du weißt selbst, wie es in Deutschland vor 1933 aussah. Niemand hatte Arbeit, viele hungerten. Uns ging es gut auf dem Land, aber hast du mal mit Leuten geredet, die damals in Berlin lebten? Hier haben sie Katzen und Hunde geschlachtet, um etwas zu essen zu haben.«
    Daut machte eine kurze Pause. Er wollte wissen, wie seine Worte bei seiner Frau ankamen. Sie hatte sich aber von ihm weggedreht, und er sah ihr Gesicht nicht. Deshalb setzte er zur Bekräftigung hinzu:
    »Seitdem Adolf Hitler Reichskanzler ist, hat die Regierung Millionen von Arbeitsplätzen geschaffen.«
    Luise drehte sich ruckartig um.
    »Ja«, stieß sie hervor, und Daut hatte seine Frau nie so erlebt. »Millionen Männer hat er zu Soldaten gemacht, die quer durch Europa ziehen. Nimm doch nur deinen Bruder Max. Glaubst du, er hat Koch gelernt, damit er im tiefsten Russland seinen Kopf riskiert?«
    »Was redest du da? Lass meinen Bruder aus dem Spiel. Reden wir doch über mich und meinen Beruf. Jetzt endlich kann die Polizei in diesem Land ihre Arbeit tun, ohne wie all die Jahre zuvor von Vorschriften und Paragrafen gegängelt zu werden, die alle nur einem Ziel dienten: den Täter zu schützen!«
    Luise lachte höhnisch auf.
    »Wie gut ihr eure Arbeit jetzt machen könnt, sieht man ja daran, dass ihr es nicht einmal schafft, eure Frauen und Töchter vor dem S-Bahn-Mörder zu beschützen!«
    »Du bist ungerecht, Luise!«
    »Ungerecht? Weißt du überhaupt noch, was ungerecht ist? Ungerecht ist, dass man der alten Frau Lesser nicht einmal erlaubt, ihr Geschäft, dessen Ausübung man ihr verboten hat, zu verkaufen. Erinnerst du dich überhaupt noch an sie? Nein, wahrscheinlich nicht. Du weißt nicht, wovon ich spreche. Du willst es nicht hören ‒ und sehen schon gar nicht. Lieber machst du die Augen zu vor allem, was dir nicht passt. Pass nur auf, dass sie dir nicht eines Tages aus dem Kopf fallen!«

Zwanzig

    Erna Neeb nahm die Schürze ab und hängte sie an den Haken neben der Spüle. Gustav trocknete den letzten Teller ab. Sie sah ihn von der Seite an. Er wurde alt. Sie wurden alt. Zu alt, für diese Dinge. Im Alter bekommt Angst eine andere Dimension. Man verliert sie nicht, aber sie ist nicht mehr so präsent. Der Tod wartet ohnehin, und ob er ein paar Jahre oder Monate früher kommt, spielt kaum eine Rolle. Ohne Angst verliert man die Kontrolle. Wird unvorsichtig. Waren sie zu unvorsichtig? Der Junge auf jeden Fall, er war ein Träumer, der glaubte, Hitler im Alleingang besiegen zu können. So stark fühlte er sich, auch wenn er jetzt vor Angst fast verging. Durfte man ihm das übel nehmen? Andere taten das, doch er war ihr Junge. Sie mussten ihm helfen, auch wenn es riskant war.
    Als hätte er ihre Gedanken

Weitere Kostenlose Bücher