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Codewort Rothenburg

Codewort Rothenburg

Titel: Codewort Rothenburg Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Béla Bolten
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gelesen, sagte Gustav:
    »Er ist ein Heißsporn, und das sind die gefährlichsten. Naiv ist er außerdem, so, wie er sich jetzt in diese gefährliche Lage gebracht hat. Er weiß doch, dass er auffällt.«
    Sie wusste, dass er recht hatte. Der Junge hatte einen Fehler gemacht, aber er hatte ihn erklärt. Er beteuerte, dass er keine andere Wahl gehabt hatte. Erna glaubte ihm. Musste ihm glauben. Er war ihr zweiter Halt neben Gustav. Sie trat auf ihren Mann zu und legte die Arme um seine Taille. Wie schlank er immer noch war. Er aß ja auch wie ein Spatz.
    »Du hast recht, aber er kann nicht immer allem ausweichen. Mag sein, dass er sich zu sicher fühlte. Denk nur daran, wie viele Untersuchungen er bei der Wehrmacht über sich ergehen lassen musste. Es ist immer alles gut gegangen.«
    Luise seufzte, und Gustav streichelte ihr sanft über die Wange.
    »Bisher haben ihn die Papiere geschützt. Die sind schließlich echt, auch wenn die Geschichte dahinter erlogen ist.«
    Luise lehnte ihren Kopf an die Schulter ihres Mannes. Wie schaffte er das nur, dass sie sich in seinen Armen noch immer so geborgen fühlte?
    »So weit ist es gekommen in Deutschland. Die Wahrheit spielt keine Rolle mehr, wenn du deine Lügen mit Brief und Siegel bestätigt hast.«
    »War das nicht immer schon so?«
    Gustavs Stimme war sanft, als führten sie ein Gespräch über ihre Liebe in den Tagen der Jugend.
    »In diesem Land galt nie der Mensch, sondern sein Ausweis. Der amtliche Stempel machte ihn zum Helden oder zum Schurken. Daran haben die Nazis nichts geändert. Warum sollten sie auch. So war es doch viel leichter für sie. Aber für den Jungen war es gut.«
    Er schob Erna ganz leicht von sich, hakte sich in ihrem Arm ein und führte sie ins Wohnzimmer, als spazierten sie auf einer Promenade am Meer, vertieft in ein Gespräch über Musik oder Malerei. Wie gerne würde sie jetzt darüber reden. Aber diese Themen waren nicht mehr wichtig, würden es vielleicht nie mehr sein. Gustav drückte sie sanft in den Sessel, setzte sich ihr gegenüber auf die Couch und zündete sich eine Zigarre an. Nachdem er einen dicken Rauchkringel in die Luft geblasen hatte, nahm er den Gesprächsfaden wieder auf.
    »Ich muss ständig darüber nachdenken, warum er sich diesmal nicht anders zu helfen wusste. Warum er nicht auf Brief und Siegel vertraute.«
    Erna strich sich langsam eine Strähne ihres grauen Haares aus dem Gesicht. Wenn Gustav sie etwas gefragt hatte, wartete er geduldig auf die Antwort. Immer gab er ihr die Zeit, die sie zum Nachdenken brauchte. Das war seine großartigste Eigenschaft.
    »Er hatte Angst, Gustav! Todesangst. Er weiß zu viel, und er will nicht blind in sein Schicksal rennen wie alle die anderen.«
    Gustav nickte. Es war nicht die Zeit, über Schuld oder Unrecht ihres Jungen zu sprechen. Es war die Zeit, ihn zu retten. Ein für alle Mal. Es ging nicht um Moral, es ging ums Überleben. Sachlich fragte er:
    »Wo habt ihr ihn heute hingebracht?«
    »Er ist bei Freunden von Werner. In ein paar Tagen bekommt er seine Papiere, und dann müssen wir einen Weg finden, ihn rauszubringen. Es wird jeden Tag gefährlicher für ihn. Sie werden nach ihm suchen mit allem, was sie haben. Einen Mörder entfliehen zu lassen, ist ein lässliches Vergehen. Einen Deserteur aber jagen sie unerbittlich.«
    Mit einem Seufzer drückte sich Erna aus dem Sessel.
    »Willst du noch mal weg?«
    »Ich bringe Susette Lesser die Reste vom Eintopf.«
    Gustav wiegte langsam den Kopf.
    »Weißt du, was Werner mir neulich gesagt hat?« Ohne seine Frau anzuschauen, machte der alte Mann eine Pause, als wäre er sich nicht sicher, ob er weitersprechen sollte. »Werner meint - und er ist nicht der Einzige, der so denkt ‒, dass wir vorsichtiger sein sollten. Es fällt auf, dass du häufig die alte Lesser besuchst. Wenn die Leute darüber reden, könnte die Gestapo auf uns aufmerksam werden.«
    Erna atmete tief durch, ging auf ihren Mann zu und streichelte seine Wange.
    »Ach Gustav.«
    Er sah zu ihr auf. »Ich weiß, Erna.«
    Als sie das Wohnzimmer verließ, rief er ihr nach: »Grüß Susette von mir.«

Einundzwanzig

    Die Spannung war greifbar. Am Werderschen Markt wimmelte es wie in einem Ameisenhaufen. Polizisten rannten von Büro zu Büro, Sekretärinnen schleppten Aktenstapel, aufgeregte Debatten flammten auf und verstummten, sobald ein Vorgesetzter den Raum betrat. Niemand verstand, was geschah. Was sollte dieser Befehl? »Die Überwachung von S- und U-Bahnhöfen sowie

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