Codewort Rothenburg
Zwei SS-Offiziere kamen ihnen auf dem Trottoir entgegen. Der eine pfiff ein Lied, und der andere mühte sich, trotz des leichten Windes eine Zigarette in Brand zu setzen. Paul zerrte Luise in einen Hauseingang und drückte sie gegen die Wand. Sie wollte protestieren, als er seinen Körper gegen sie presste und seine Lippen auf ihre drückte. Sie bekam keine Luft mehr, wagte es aber nicht, sich zu bewegen. Er streichelte ihr mit der Hand durchs Haar.
»Schau mal an, Sie haben es wohl sehr nötig. Und das in Ihrem Zustand! Schämen sollten Sie sich! Wahrscheinlich ist der Herr nicht der Erzeuger des Balges, das Sie da spazieren tragen, oder?«
Der größere der beiden SS-Männer trat auf sie zu. Paul löste seine Lippen von ihren, und so konnte Luise wenigstens Luft holen. Seinen Körper allerdings bewegte er keinen Millimeter zur Seite. Der Offizier winkte seinen Kameraden heran.
»Schau dir den an, Ferdinand. Würde mich nicht wundern, wenn der schielende Gnom da ein Judenschwein ist. Haben wir es hier mit einer niederträchtigen Rassenschande zu tun?«
Der andere Offizier hantierte immer noch erfolglos mit seinem Feuerzeug und winkte ab.
»Ach komm, Karl. Lass uns gehen. Ich hab vielleicht einen Durst!«
Der Angesprochene warf noch einen abschätzenden Blick auf Luise, ehe er sich umdrehte.
»Hast recht«, sagte er. »Ich habe auch einen ordentlichen Brand.«
Er schlug dem anderen kräftig auf die Schulter, und sie marschierten im Gleichschritt davon.
Luise zitterte am ganzen Leib. Paul löste sich langsam von ihr. Er griff in seine Hosentasche, hielt ihr ein Taschentuch hin und deutete auf ihren Mund. Luise betupfte ihre Lippen. Ein dicker Tropfen Blut färbte das Tuch rot. Hatte sie sich in ihrer Panik selbst gebissen? Oder war er es gewesen?
»Komm!«
Paul ging langsam am Theater vorbei. Der Platz vor dem Eingang hatte sich inzwischen geleert. Alle wollten so schnell wie möglich aus der Dunkelheit nach Hause oder in eine der umliegenden Gaststätten. Er bog rechts in die nächste Straße ein. Luise konnte das Straßenschild in der Finsternis nicht entziffern. Der Name schien ihr ellenlang.
»Ich bin gleich wieder da!«
Durch eine Wageneinfahrt betrat Paul einen Hinterhof und kam nach wenigen Sekunden zurück.
»Alles erledigt. Geht es dir gut?«
Am liebsten hätte sich Luise das vertraute Du verboten. Was bildete sich der Kerl ein. Stattdessen nickte sie stumm.
»Dann gehst du jetzt zurück zum Bahnhof Halensee. Den Rest schaffe ich alleine.«
Ohne ein weiteres Wort drehte er sich um und ließ sie stehen. Übelkeit stieg in Luise hoch. Sie trat an die Hauswand und erbrach sich.
Dreiunddreißig
Vorsichtig drehte Daut den Schlüssel im Schluss und öffnete behutsam die Wohnungstür ‒ auf keinen Fall wollte er Luise wecken. Den langen Weg von der Giesebrechtstraße zur Roten Insel war er zu Fuß gegangen in der Hoffnung, den Kopf freizubekommen. Es hatte nicht geholfen, er war immer noch nicht bei klarem Verstand. Dabei hatte er heute weniger getrunken als in den Nächten davor. Es war nicht nur die betörende Körperlichkeit Mariannes, die ihn berauschte. Vielmehr war es die bloße Existenz von Kittys Salon, die ihn aus der Realität katapultierte. Was ging hier vor? Parteibonzen, Offiziere, Botschafter - alle im Rausch. Nichts von dem, was er in den vergangenen Stunden erlebt hatte, hätte er zuvor auch nur im Traum für möglich gehalten.
Daut öffnete die Tür zu Küche. Luise saß am Tisch, vor sich eine Tasse mit kaltem Muckefuck. Sie starrte mit glasigen Augen vor sich hin, als hätte sie geweint. Ihre Haare waren ungeordnet, und es schien Daut, als sei ihre Unterlippe leicht geschwollen. Sie trug ihr langes Nachthemd, vermutlich hatte sie schon im Bett gelegen. Ohne den Kopf zu heben und ihn anzusehen, sagte sie: »Wieder spät heute?«
Daut trat schweigend auf sie zu. Wie gerne würde er ihr sagen, dass seine Welt aus den Fugen geraten war. Vielleicht könnte sie es ihm erklären. Sie schien so viel mehr zu verstehen als er. Als er sich zu ihr herunterbeugte, um ihr wie tausend Mal zuvor über den Kopf zu streicheln, wandte sie sich brüsk ab.
»Du riechst wie ein ganzer Puff!«
Dauts Körper versteifte sich. Wortlos ging er ins Schlafzimmer.
Vierunddreißig
»Verdammt, Axel, wach endlich auf!«
Daut hob den Kopf. Der Platz neben ihm war leer. Wo war Luise? Er versuchte, sich zu erinnern, was passiert war. Er war in der Giesebrechtstraße gewesen. Luise hatte in der Küche
Weitere Kostenlose Bücher