Codewort Rothenburg
wirklich zumuten in Ihrem Zustand?«
Luise wusste zwar nicht, warum ein Männerüberschuss ein Problem darstellte, antwortet aber trotzdem:
»Deshalb bin ich hier.«
Sie stand auf und sah sich im Raum um. Alle hatten sich inzwischen zu Paaren gruppiert, lediglich ein untersetzter, etwa fünfunddreißig Jahre alter Mann saß noch auf seinem Stuhl und las das Flugblatt. Der Doktor deutete auf ihn.
»Dann gehen Sie mit Paul.«
Der Angesprochene schaute auf und sah in Luises Richtung. Zumindest dachte sie das, bis sie bemerkte, dass er schielte. Es war unmöglich auszumachen, ob er sie betrachtete oder den Arzt, der ihm ein paar Blätter entgegenhielt. Der Stapel war dünn, alle anderen hatten weit mehr genommen.
Paul stand auf.
»Charlottenburg. Wie immer.«
Er nahm Luises Arm.
»Kommen Sie, es ist schon spät.«
Auf der Straße wandte er sich nach rechts. Er ging so schnell, dass Luise Mühe hatte zu folgen. Sie sprachen kein Wort. Nach einer Viertelstunde - Luise war außer Atem von der Rennerei - steuerte er direkt auf den roten Klinkerbau eines Bahnhofs zu. »Schmargendorf« las Luise.
»Wo sind wir?«, fragte sie.
Paul blickte sich um, sie war drei Meter zurückgeblieben.
»Wir fahren jetzt mit der S-Bahn nach Halensee. Das werden Sie ja kennen. Sind nur drei Stationen.«
Der Mann blieb stehen, und Luise schloss auf.
»Und dann?«
Er lachte heiser.
»Was glauben Sie, was wir tun werden? In ein Café gehen und die Flugblätter dort verteilen?«
Er kratzte sich am Kopf und wendete sich Luise zu, ohne dass sie sagen konnte, ob er sie tatsächlich ansah oder überprüfte, ob ihnen jemand gefolgt war.
»Wir spazieren den Ku’damm runter, Gnädigste. Viele große Häuser, viele Briefkästen. Bis zur Uhlandstraße sollten wir die paar Blätter losgeworden sein.«
Luise schätzte die Entfernung vom S-Bahnhof Halensee bis zur Uhlandstraße ab.
»Das schaffe ich nie! Das sind doch mindestens zwei Kilometer.«
»Eher drei«, antwortete Paul und verfiel wieder in Schweigen.
Ohne ein Wort zu wechseln stiegen sie zum Bahnsteig hinauf. Schweigend warteten sie auf den nächsten Zug. Schweigend fuhren sie bis Halensee. Schweigend überquerten sie den Henriettenplatz. Der Kurfürstendamm lag vor ihnen, furchterregend dunkel, die Laternen waren abgeschaltet. Nur selten fiel ein Lichtschein aus einem Hauseingang oder Fenster auf das Trottoir. Ein einziges Auto fuhr an ihnen vorbei Richtung Grunewald. Das Licht aus den winzigen Scheinwerferschlitzen reichte gerade, damit der Fahrer nicht von der Fahrbahn abkam. Paul deutete auf Luises Bauch.
»Wo wohnen Sie?«
Einen Moment zweifelte Luise, ob sie ihm trauen sollte, nannte aber doch ihre Adresse.
»Begleiten Sie mich so weit wie möglich. Diesmal sind es ja nur wenige Blätter. Danach gehen Sie ohne mich zurück und nehmen die S-Bahn direkt bis zur Kolonnenstraße. Das werden Sie ja wohl schaffen.«
Luise registrierte den sarkastischen Unterton, beschloss aber, ihn zu überhören. Sie nickte, obwohl sie im gleichen Moment an den S-Bahn-Mörder dachte. Schnellen Schrittes ging Paul weiter. Nach fünfzig Metern blieb er stehen und wies in einen Hauseingang.
»Das Haus ist gut, in allen Wohnungen ist es dunkel, und es gibt viele Briefkästen. Sie bleiben hier! Wenn jemand kommt oder das Licht in einer Wohnung angeht, rufen Sie nach mir.«
»Was soll ich denn sagen?«
»Na was wohl? Meinetwegen, dass sie endlich weitergehen wollen und ich mich mit dem Pinkeln beeilen soll.«
Luise senkte den Blick, und so entging ihr Pauls anzügliches Grinsen. Er schlüpfte in den Hauseingang. Luise hörte das leise Klappern der Briefkästen, wenn er ein Flugblatt einwarf. Eine Minute später kam er wieder heraus, und sie gingen weiter den Ku’damm herauf. Als auch am zweiten Haus alles glattging, entspannte sich Luise.
»Wie viele Blätter haben Sie noch?«
Paul griff in die Innentasche seines Mantels.
»Nicht mehr viele. Am Lehniner Platz müssten wir sie loswerden.«
Zwanzig Meter rechts vor ihnen wurde eine Tür geöffnet. Lachen drang auf die Straße, Menschen kamen heraus. Zwanzig, vielleicht auch dreißig.
»Mist!«, fluchte Paul.
»Die Vorstellung ist aus.«
Luise schaute ihn an. Sein Gesicht war angespannt, und er kniff die Augen zusammen.
»Welche Vorstellung?«
Sie ärgerte sich, dass sie ein leichtes Zittern ihrer Stimme nicht verhindern konnte.
»Das Kabarett der Komiker.«
Paul ergriff Luises Arm und drückte ihn. In diesem Moment sah sie es auch.
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