Codewort Rothenburg
Nichts. Hatte er sich vertan? Spielten ihm die Sinne einen Streich in dieser verdunkelten Welt? Er wandte sich Richtung Weg. Da! Wieder dieser Schatten - diesmal neben dem Haus. Daut sprang über die fünfzig Zentimeter hohe Beeteinfriedung und rannte los. Der Schatten löste sich von der Wand und stürmte über den Nachbargarten auf die Mauer zu, von der die gesamte Kolonie umgeben war. Wie weit war es bis dahin? Dreihundert Meter? Mehr bestimmt nicht. Daut rannte, so schnell er konnte, aber der Mann vor ihm war flinker. Soweit Daut das erkennen konnte, war er jung und schlank. Ein schwarzer Ledermantel wehte hinter ihm wie ein von Feuchtigkeit schwerer Flügel. Daut rutschte auf einem Stein aus und schrie kurz auf. Ein Schmerz fuhr ihm ins rechte Knie, doch er rannte weiter. Sein Atem rasselte, die Lungen pfiffen eine Melodie in Moll. Der Mann erreichte die Mauer. Er sprang hoch und versuchte, die Mauerkrone zu greifen. Erfolglos. Das gab Daut die Zeit, ihn zu erreichen. Als er die Hand nach dem Flüchtigen ausstreckte, sprang dieser erneut. Diesmal klappte es, und er zog sich die Mauer hoch. Daut griff nach dem rechten Fuß. Der Mann trat aus und traf Daut an der Schulter, der niedersank wie ein Hufschmied, den der Tritt eines Pferdes zu Boden streckte. Der Polizist stöhnte auf, und der Mann blickte, als er die Beine auf die Mauer schwang, nach unten. Das Gesicht hatte Daut schon einmal gesehen. Aber wann? In welchem Zusammenhang?
Fünfunddreißig
»Keine Nachrichten sind gute Nachrichten, Freunde!« Gustav Neeb legte den Löffel zur Seite und stand auf.
»Noch ein bisschen Eintopf, Luise? Du musst schließlich für zwei essen!«
Luise wehrte ab und bemühte sich um ein Lächeln. Die nächtliche Flugblattverteilung setzte ihr noch immer zu. Nie zuvor hatte sie so viel Angst gehabt. Gustav Neeb wandte sich der Runde am Tisch zu.
»Wer hat noch nicht, wer will noch mal?«
Niemand rührte sich.
»Was ist denn mit euch los? Nur weil wir seit Beginn des Feldzuges gegen Russland keine konkreten Meldungen haben, heißt das doch nicht, dass wir hier Trübsal blasen müssen. Erfolgsmeldungen posaunen die Brüder vom OKW doch sonst immer sofort heraus.«
Als niemand reagierte, schöpfte sich Neeb eine Kelle Eintopf in den Teller und aß schweigend weiter. Die Berichte über den Kriegsverlauf im Osten waren bisher eher vage. Das übliche Geschwafel eben über einen schnellen Vormarsch und Verluste des Gegners. Aber keine konkreten Ortsnamen, Daten, Fakten. Auch die ausländische Presse berichtete nichts Genaues. Zumindest war Harro nicht in den Besitz solcher Artikel gekommen.
Die Stimmung im Wohnzimmer der Neebs war angespannt wie lange nicht mehr. Im Hintergrund lief das Radio. Schlagermusik. Endlich die bekannte Fanfare. Alle hofften auf etwas Handfestes - selbst wenn es üble Propaganda war. Ein Körnchen Wahrheit ließ sich meistens entdecken. Erna sprang auf, warf die Serviette auf den Tisch und drehte am Lautstärkeregler.
»Das Oberkommando der Wehrmacht gibt bekannt: Der Vormarsch unserer Truppen auf sowjetrussischem Gebiet geht mit unverminderter Kraft und Geschwindigkeit weiter. Gestern am späten Nachmittag kapitulierten die Städte Bialystok und Minsk. Mehr als dreihunderttausend feindliche Sowjetsoldaten wurden gefangen genommen.
Unserer Luftwaffe gelang es in den vergangenen Tagen, fast die gesamte Flugzeugflotte des Feindes am Boden zu zerstören. Der Vormarsch unserer Soldaten in Richtung Moskau kann somit aus der Luft kaum noch gestört werden.«
Luise hatte den Löffel vorsichtig auf den Tisch gelegt. Nur kein Geräusch machen, das die Stille im Raum störte. Alle saßen wie festgewurzelt auf ihren Plätzen und lauschten der sonoren Stimme aus der Goebbelsschnauze . Je länger der Sprecher redete, desto greifbarer wurde das Entsetzen der Zuhörer.
Als Erste hielt es Libertas nicht mehr aus:
»Das kann nicht stimmen! Sie lügen, wie sie immer lügen!«
Sie sprang vom Stuhl auf und rannte im Zimmer auf und ab.
»Stalin war gewarnt, er wusste, was ihn erwartete. Unmöglich, dass er seine Luftwaffe einfach so mir nichts, dir nichts am Boden zerstören lässt.«
»Setzt dich hin und beruhige dich, Liebling!«
Harro nahm eine Zigarette, zündete sie an und steckte sie seiner Frau zwischen die Lippen, die er dabei wie zufällig berührte.
»Normalerweise glaube ich diesen Brüdern nur selten. Aber in diesem Fall könnte es stimmen. Vorgestern gab es eine spontane Feier im Ministerium, zu der
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