Codex Mosel
strahlenden Laterne. Edith hatte ihre Ausrüstung aus dem Kofferraum geladen und überlegte, ob ihr dicht an der mit knorrigem Efeugehölz überwucherten Wand geparkter Wagen anderen Autos den Weg versperren könnte. Zu dieser späten Stunde war es eher unwahrscheinlich, ob überhaupt noch jemand in die enge Gasse des Domviertels kommen würde. Sie schloss den Wagen ab, legte sich den Riemen der Ledertasche über die Schulter, klemmte das Stativ unter einen Arm und fasste nach den Griffen der beiden Aluminiumkoffer. Die alten Mauern, die links und rechts neben ihr aufragten, waren höher, als die Gasse breit war. Edith musste sich überwinden, in das Dunkel einzutauchen, das sie an der Ecke erwartete. Die Regentropfen klangen auf den Koffern wie zart geschlagene indische Trommeln. Die Absätze rutschten auf dem Pflaster, als sie um die Mauer bog.
Sie war erleichtert, als sie die Holztür mit den dicken Eisenbeschlägen erreicht hatte und ihre Last abstellen konnte. Die Tasche behielt sie auf der Schulter. Neben dem in einer runden Vertiefung eingelassenen Klingelknopf befand sich kein Schild. Als Edith auf den Knopf drückte, verkantete er sich und sprang erst wieder heraus, als sie mehrmals seitlich dagegen geklopft hatte. Ein Klingelton war nicht zu hören. Sie war schon einmal hier gewesen und wusste, wie groß der Garten zwischen Mauer und Kuriengebäude war, in dem der Domherr wohnte, der sie vor einer Stunde angerufen hatte.
Edith wartete. Es gab kein Vordach. Sie spürte, wie ihr Haar schwerer wurde. Sie hatte es am Abend bereits gebürstet, wie sie es immer vor dem Schlafengehen tat. Hundert Mal, wie eine Prinzessin. So hatte sie es als Kind gelernt. Schon damals hatte sie lange braune Haare, nicht dick, aber sehr dicht. Und glänzend, was, wie sie bis heute glaubte, vom vielen Bürsten kam. Ihr Haar reichte noch immer bis zur Taille. Nur nass konnte sie es nicht mehr ertragen. Sie bekam Kopfschmerzen, wenn sie es nicht gleich nach dem Waschen in ein Handtuch einschlug oder es trocken föhnte.
Drei Glocken schlugen kurz hintereinander. Sie schaute auf ihre Uhr. Viertel vor zwölf.
Ein Riegel scharrte. Die Tür ging nach außen auf und stieß gegen einen der Koffer. Ein dunkel gekleideter Mann trat unter dem steinernen Türsims hindurch.
»Guten Abend, Frau Basten.« Domkapitular Prof. Dr. Alfons Adams beugte sich vor und streckte Edith die Hand entgegen. »Schön, dass Sie es einrichten konnten. Ich danke Ihnen sehr.«
Sie schob ihre rechte Hand nach vorn, wobei sie das Stativ unter dem Arm geklemmt hielt. »Kein Problem.«
»Ich nehm Ihnen das ab.« Adams drückte ihr kurz die Hand und fasste nach dem Stativ. Sie nahm einen Hauch von Weingeruch wahr. Der Professor trug unter dem dunklen Anzug mit dem kleinen goldenen Kreuz am Revers einen grauen Cashmere-Pullover, über den ein weißer Hemdkragen geschlagen war. Aus seinem Revers lugte eine schmale Papierrolle hervor. Jetzt nahm sie auch die Ausbuchtung in der Jacke wahr.
Ein Windstoß fuhr ihr ins Haar. Die milde Luft war durchsetzt mit feinem Regen. Nach drei verregneten Juniwochen war es heute tagsüber endlich wieder sonnig gewesen.
»So, dann woll’n wir mal.« Adams rückte sein dunkles Béret zurecht und wandte sich in Richtung Dom. Edith packte die beiden Koffer und mühte sich, mit dem forsch ausschreitenden Professor Schritt zu halten. Im ersten Moment dachte sie, er würde einen Scherz machen, als er ihr keine weitere Last abnahm. Edith bereute es nun, dass sie ihren Mann, der schon zu Bett gegangen war, nicht gebeten hatte, sie zu begleiten. Auf dem Küchentisch hatte sie einen Zettel hinterlassen. ›Bin den Codex fotografieren‹. Jetzt kam ihr die Information recht dürftig vor. Würde er sie überhaupt verstehen? Sie kapierte selbst nicht so recht, warum dieser Fotoauftrag nicht bis morgen warten konnte.
Sie bogen um eine Hausecke. Direkt vor ihnen ragte urplötzlich die gewaltige, in einem warmen Gelb angestrahlte Südseite des Doms auf.
Der Domkapitular blieb stehen. Er hielt das Stativ mit beiden Händen vor der Brust, als trüge er eine Maschinenpistole. Edith schnaufte. Alfons Adams schien nicht zu bemerken, wie sie sich abrackern musste. Ohne seine Hilfe anzubieten, wies er auf einen kleinen Vorplatz. »Hier geht’s lang.«
War er wirklich so unaufmerksam? Lag es am Alkohol oder daran, dass der Professor bereits auf die Aufgabe konzentriert war, die vor ihnen lag? Zwischen Bauwagen und Containern, die teils zweistöckig
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