Codex Mosel
übereinander saßen, versuchte sie, besonders schlammigen Stellen auszuweichen.
Als Edith an der Doppeltür ankam, deren hochmodernes Schloss von Adams routiniert geöffnet wurde, stellte sie die beiden Koffer härter als gewollt ab.
»Darf ich?« Der Mann hielt ihr mit dem Ellenbogen des rechten Arms die Tür auf, während er mit der linken Hand nach einem der Koffer fasste.
»Danke, gern.«
»Ich dachte, sie würden die sensiblen Apparate nicht aus der Hand geben wollen.«
»Kein Problem.« Jetzt verwendete sie schon zum zweiten Mal die Lieblingsredewendung ihres achtjährigen Sohnes.
Adams setzte auf der anderen Seite der Tür den Koffer ab und legte das Stativ darauf. Er ließ seine Begleiterin herein und schloss wieder ab.
»Achtung!« Der Domkapitular hielt sie am Arm zurück. »Hier folgt unmittelbar eine Treppe.« Mit leichter Berührung lenkte er ihren Arm zu einem Geländer.
Über wenige Stufen gelangten sie hinunter in einen dunklen Raum, der, nach dem Hall ihrer Schritte zu urteilen, groß und unmöbliert wirkte. Vorsichtig tastete sie mit den Schuhen über den Fußboden. Er schien aus großen, nicht ganz eben verlegten Steinplatten zu bestehen. Weiter vorn fiel durch einen offenen Türbogen schwaches Licht herein.
»Was ist denn da drin?« Adams musste den Koffer meinen, der sich neben ihr wie von Geisterhand fortbewegte. Der dunkel gekleidete Träger war nicht zu erkennen.
»Licht«, war ihre knappe Antwort.
»Das habe ich mir leichter vorgestellt.«
Sie gelangten in einen nach rechts offenen Flur. Ein Windstoß erfasste sie.
»Sind wir im Kreuzgang?«
»Richtig«, bestätigte der Professor. »Eine großartige Leistung der Gotik aus dem 13- Jahrhundert. Hier gab’s früher mal Brot und Wein für die Armen.« Er kicherte. »Der Domklerus musste dafür aufkommen. Heute liegen die Herren hier begraben.«
Sie erreichten die ersten zum Innenhof weisenden Rundbögen, deren feine Verzierungen filigrane Schatten auf den Steinboden warfen.
Der Wind wehte vom Innenhof her. Dort schimmerten marmorne Grabplatten, von geschwungenen, glaslosen Steinbögen umgeben. Ihr wurde kalt bei dem Gedanken, eine der Grabplatten könnte sich knarrend zur Seite bewegen.
Sie kamen an zwei überlebensgroßen Steinfiguren vorbei, die an der Seite des Gangs wie zwei Ungeheuer wirkten, die mit drohend erhobenen Armen auf Beute lauerten. Als sie die Figuren hinter sich gelassen hatten, blickte Edith sich verstohlen um, wie ein Kind, das sich nicht sicher war, ob die steinernen Monster hinter seinem Rücken sich nicht doch bewegen könnten.
Sie näherten sich einem Gitter am Ende des Gangs, hinter dem rotes Kerzenlicht flackerte. Der Domkapitular war schon um die Ecke gebogen, als er abrupt stehen blieb.
Ihr Blick folgte seinem ausgestreckten Arm, der über den Innenhof auf den barocken Turm der Heiligrockkapelle wies. Mit der runden Kuppel und den schwarzen Fenstern zeichnete er sich gegen den rötlichen Himmel ab.
»Warum brennt da kein Licht?«, murmelte Adams.
Der Professor war wieder einen halben Schritt voraus. Er bewegte sich mit der Sicherheit eines Schlafwandlers. Sie passierten weitere Nischen und Kapellen, in denen Kerzen brannten. Vom Halbdunkel des Säulengangs traten sie in einen dunklen Flur. Edith schob sich tastend vorwärts. Ihr Blick wechselte hin und her zwischen dem dunklen Boden und ihrem fast ebenso unsichtbaren Begleiter, der nun langsamer vorankam. Es ging wenige Stufen hinauf zu einer Holzpforte, die mit drei übereinander angebrachten Eisenbeschlägen verstärkt war. Nach wenigen Sekunden wurde die Tür aufgestoßen. Eine angenehme Wärme empfing sie. Ediths Augen hatten sich inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt. Der dumpfe Ton der zuschlagenden Tür löste ein vielfaches Echo aus, das sanft aus den Tiefen des Doms zurückhallte.
Ihr Begleiter nahm die Kappe ab. Im Schein des aus dem Ostchor hereinfallenden Lichts wirkten seine Haare gelblich-weiß.
Hier bist du in einer Kirche, hier wirst du beschützt, versuchte sie sich einzureden. Hier konnte außer ihnen niemand sein! Höchstens Gespenster, aber die hatten in einem Gotteshaus nichts zu suchen.
Edith zuckte zusammen. Vier Glocken schlugen und dann folgte eine dunklere Fünfte. Sie zählte stumm bis zwölf.
»Um Mitternacht wird die Alarmanlage ausgeschaltet.« Die gelassene Stimme des Domkapitulars beruhigte sie ein wenig. »Zwischen Mitternacht und sechs Uhr morgens ist die einzige Zeit, in der die komplizierte Alarmanlage
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