Codex Mosel
Schritte gehört. Gab es hier Tiere? Deutlich größer als Kirchenmäuse mussten sie schon sein. Immer wieder hatte sie verstohlen zu ihrem Banknachbarn geschaut, der nicht einmal mit dem kleinsten Zucken reagierte. Am liebsten hätte sie ihn aufgefordert, sie auf der Stelle wieder hinauszubegleiten.
»Ich denke, wir können.« Ihr Auftraggeber erhob sich. Dankbar ergriff sie die Tasche und den Koffer und folgte ihm zur Treppe. Die Arbeit würde sie hoffentlich ablenken.
Das Scharren ihrer Schritte auf den Steinstufen wurde mit dumpfem Zischen aus dem schwarzen Raum beantwortet. Oben quietschte das Eisengitter. Ein kühler Hauch streifte ihren Scheitel. Sie beschleunigte ihre Schritte und schielte hinter sich. Dabei stieß der Aluminiumkoffer hart gegen eine Strebe des dünnen Eisengeländers.
»Alles in Ordnung?«
»Nix passiert.« Sie spürte die Unsicherheit in ihrer Stimme. »Warten Sie bitte.«
Adams verharrte, bis sie zu ihm aufgeschlossen hatte. »Entschuldigen Sie, erst lasse ich Sie allein die schweren Koffer schleppen und dann laufe ich Ihnen im dunklen Dom davon.«
»Kein Problem.« Nun hatte sie es zum dritten Mal gesagt. Wie Petrus, kam es ihr in den Sinn, der Jesus dreimal verleugnete, bevor der Hahn gekräht hatte.
Dem Aufschließen der Tür folgte das Aufflammen zahlreicher Lichter. Edith blinzelte in die Domschatzkammer. Von einer Säule in der Mitte des Raums zogen sich feine Gewölbe bis zu den Wänden des quadratischen Saals, wo die Exponate in den Vitrinen ihre Blicke anzogen. Kostbare Monstranzen, Kelche und Reliquienschreine, viele golden und mit Edelsteinen besetzt. Die Vitrinen in der Mitte des Raums waren höher als die übrigen.
Neben der Tür standen zwei schlichte Holzstühle. Auf dem ersten legte Edith den Koffer ab und klappte ihn auf. Kameragehäuse und Objektive waren von dickem Schaumstoff umhüllt. Während sie das 80mm auf die Mamiya schraubte und einen Ektachrome-Rollfilm einlegte, stellte Adams den Koffer mit den Lampen neben den Stuhl auf den gefliesten Boden.
»Ich brauche die Bilder bis morgen früh, und zwar digital.« Der Ton des Professors klang bestimmt. Als Dombaumeister war er gleichzeitig für alle Liegenschaften des Bistums zuständig. Das waren mehrere Tausend Bauten, dementsprechend viele Aufträge für Renovierung und Instandhaltung hatte er zu verantworten. Edith hatte den Professor kennen gelernt, als die Zeitung, für die sie früher arbeitete, einen Bericht zu seinem Sechzigsten gebracht hatte. Sie hatte ihn damals in seinem wunderschönen Kuriengarten fotografiert.
»Klar.« Fast wäre ihr zum vierten Mal,kein Problem’ herausgerutscht. »Die hab ich nur zur Sicherheit dabei. Notfalls kann ich die Dias gleich anschließend entwickeln.«
Bei der Zeitung hatte sie hauptsächlich im Fotolabor und in der Repro gearbeitet. Irgendwann war das Labor überflüssig geworden. Kurze Zeit nach der Kündigung wurde sie schwanger, und als ihr Sohn den Kindergarten besuchte, hatte sie ein eigenes Studio für Porträtfotos eröffnet. Einer ihrer ersten Kunden war der Professor gewesen, der ein neues Autorenfoto für seine Publikationen benötigte.
»Aber die Dias müssen noch digitalisiert werden.« Adams baute mit wenigen Handgriffen das Stativ auf.
»Selbstverständlich kann ich die auch einscannen.« Sie steckte ihr Lieblingsobjektiv, ein lichtstarkes 1,4er mit 50er Brennweite auf die Nikon D2X. Die war schweineteuer gewesen, aber sie konnte wenigstens die alten Objektive weiterverwenden. Sie nahm die Lampen aus dem zweiten Koffer.
Hinter ihr wurde ein Schloss aufgesperrt, dann ein zweites.
Sie schritt an den beiden geöffneten Vitrinen entlang. Sie spürte den Sog, den die wertvollen Malereien auf den Blättern auf sie ausübten, aber sie konzentrierte sich auf ihren Job. Die Ausstellung würde sie sich ab Donnerstag in Ruhe anschauen können. Nicht von ungefähr hatte die Unesco den Egbert-Codex in das Register ›Memory of the World‹ aufgenommen.
»Reicht die Glasfaser-Beleuchtung?«
Sie zuckte die Achseln. Vermutlich handelte es sich um eine besonders schonende Methode, die lichtempfindlichen Exponate zu präsentieren.
»So kann ich unmöglich fotografieren.«
Draußen schepperte es heftig. Auch der Domkapitular schien für einen Moment irritiert.
»Am Einfachsten wäre es gewesen, wenn ich die Seiten in meinem Studio hätte einscannen können«, sagte sie.
»Da ist leider nicht dran zu denken. Zum einen aus versicherungsrechtlichen Gründen,
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