Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Gelehrten stand, als ich von dem unbegreiflichen und grauenvollen Geheimnis erfuhr, das ihn umschwebte und schwerer auf seiner Seele lastete, als Worte beschreiben können.
Er erzählte nie viel über sich selbst und vor allem nicht mir gegenüber in diesen ersten Wochen, in denen ich ihn kennenlernte. Außer dem, was ich in Island gehört hatte, wusste ich so gut wie nichts über seine privaten Verhältnisse. Seine dänische Frau Gitte hatte er in den zwanziger Jahren in der Königlichen Bibliothek kennengelernt, wo sie arbeitete. Sie war Männern gegenüber immer sehr schüchtern gewesen. Mit der Zeit entwickelte sich zwischen den beiden jedoch eine enge Bekanntschaft, und sie zogen schließlich zusammen und heirateten 1924. Kinder waren ihnen nicht vergönnt gewesen, und die große Tragik seines Lebens war, dass sie 1932 nach jahrelangem Kampf gegen die Tuberkulose starb. Der Professor hatte sie mit grenzenloser Hingabe und Ausdauer gepflegt, und nach ihrem Tod erlitt er einen Zusammenbruch. Er infizierte sich ebenfalls mit Tuberkulose, aber bei ihm trat die Entzündungim Bein auf, das beinahe hätte amputiert werden müssen. Den Ärzten gelang es, es zu retten, aber seitdem ging der Professor am Stock.
Nach Gittes Tod nahm er ein Sabbatjahr, um zu forschen. Über die Reisen, die er unternahm, war wenig bekannt, außer dass er drei Monate auf Island verbrachte und dabei vor allem den nördlichen Landesteil bereiste. Es kursierten Geschichten, dass er auf Hinweise gestoßen war, dass dort irgendwo Handschriftenfragmente und alte Bücher zu finden waren. Er sagte mir, dass er auf dieser Reise unter anderem einen Mann getroffen hatte, dessen Mutter möglicherweise das Breviarium Holense mit ins Grab genommen hatte. Dieses Breviarium war die erste Schrift, die in Island gedruckt worden war, und zwar 1534 oder 1535 in Breiðabólsstaður im Nordland auf Initiative von Bischof Jón Arason. Der Professor hatte vor, dieser Aussage genauer auf den Grund zu gehen. Von diesem Breviarium sind nur zwei Seiten erhalten geblieben, die den Schweden in die Hände fielen und in der Königlichen Bibliothek in Stockholm aufbewahrt werden. Als der Professor mir das sagte, hörte es sich so an, als habe er vor, eines Tages die Genehmigung zur Exhumierung dieser Frau zu beantragen, um die Worte des Mannes zu überprüfen.
Bis Kriegsende hatte der Professor unbeirrbar die Meinung vertreten, dass die isländischen Handschriften für immer und alle Zeiten nach Island zurückgeholt werden müssten. Aus unerfindlichen Gründen vertrat er nach der Befreiung Dänemarks diesen Standpunkt nicht mehr so kategorisch, sondern war der Meinung, dass sie trotz allem einstweilen noch am besten in der Königlichen Bibliothek aufgehoben seien. Er ging sogar so weit, den dänischen Argumenten beizupflichten, dass es in Island keinen sicheren Aufbewahrungsort für diese Schätze gab, geschweige denn die erforderlichen Forschungseinrichtungen. In Island hatte ersich deswegen Feinde gemacht; man sagte ihm nach, dass er hinter den Kulissen daran arbeite, die Angelegenheit hinauszuzögern. Seine Einstellung in dieser Frage schien also außerordentlich widersprüchlich zu sein, denn ich hörte nie etwas anderes von ihm, als dass die Handschriften nach Island überführt werden sollten, je eher, desto besser. Was auch immer es damit auf sich hatte, sein guter Ruf als Wissenschaftler und Hüter der nationalen Schätze hatte sehr gelitten und war vielleicht sogar schon ruiniert, als unsere Bekanntschaft begann.
Studenten an der Nordischen Abteilung, die ich in diesen sonnigen Herbsttagen des Jahres 1955 in Kopenhagen kennenlernte, erzählten liebend gern Geschichten über den Professor, die sie von den Kommilitonen oder in Island gehört hatten. Davon gab es reichlich. Alle waren sich einig, dass der Professor ein herausragender Dozent war, auch wenn er seinen Studenten gegenüber manchmal rüde und sogar ausfallend werden konnte, falls er den Eindruck hatte, dass es ihnen an Interesse oder Lerneifer mangelte. Faulenzer waren ihm zuwider. »Studier doch lieber Jura, junger Freund«, pflegte er dann zu sagen, denn Jura war das Studienfach, von dem er am wenigsten hielt. Der Professor war voll und ganz dafür gewesen, dass Island sich endgültig von Dänemark lossagte, und hatte begeistert mitverfolgt, als 1944, in Zeiten, die sehr schwierig für Dänemark waren, in Þingvellir die Republik Island ausgerufen wurde. Zu der Zeit kamen Gerüchte auf, dass er sich
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