Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
waren selten höher. Manchmal machten die Studenten Fahrradausflüge ins Grüne. Bei Frøken Dinesen an Kongens Nytorv konnte man sich Fahrräder ausleihen. Ich erinnere mich gut an eine solche Fahrt; wir nahmen Proviant mit, hielten unterwegs auch bei Lokalen an und machten eine Kahnpartie auf dem Furesøen-See, bevor wir am späten Nachmittag auf Bakken endeten und bis tief in die Nacht Lieder schmetterten.
»Wir haben ausgerechnet, wie viel Bier ein Student an einem Abend braucht«, sagte Óskar, während er die Scholle mit den Kartoffeln zusammenstampfte. Nach dem Bummel am Abend vorher klang er heiser.
»Und?«
»Wir waren zu viert und hatten uns zwei Kästen besorgt, und die Stimmung war hervorragend. Wir wetteten darum, ob das reichen würde.«
»Willst du damit sagen, dass ihr zu viert achtundvierzig Flaschen getrunken habt?«
»Pro Mann zwölf Flaschen«, sagte Óskar.
»Ist das nicht ein bisschen viel?«, fragte ich. Nach sechs oder sieben Flaschen war ich schon völlig benebelt. Außerdem vertrug ich Bier nicht so gut, ich fühlte mich immer so aufgebläht und bekam Kopfschmerzen davon.
»Einige wollten mehr. Haraldur meinte, achtzehn Flaschen seien angemessen.«
Im Speisesaal hörten wir überall um uns herum das Klappernvon Geschirr und das übliche laute Stimmengewirr von Studenten.
»Dein Professor benötigt bestimmt ein größeres Quantum«, fuhr Óskar fort, während er sich die letzte Gabel zum Mund führte.
»Kann sein«, sagte ich.
»Ich hab gehört, dass es da Probleme mit ihm gibt, wegen der Handschriften, die er zu Forschungszwecken bei sich aufbewahrt.«
»Und?«
»Ein Mädchen aus der Philosophischen Fakultät hat gesagt, dass er ständig Knatsch mit dem Fakultätsrat hat.«
»Davon weiß ich nichts«, log ich und dachte an das, was ich lauschend vor der Tür zum Büro des Professors mitbekommen hatte.
»Nein, das ist etwas, was sie auch nur vom Hörensagen wusste. Möglicherweise wollen sie ihn loswerden, hat sie gesagt.«
»Das glaube ich nicht!«
»Sie hat aber etwas in der Art gesagt. Angeblich ist seine Lage ziemlich brenzlig. Alle wissen, dass er trinkt.«
»Aber sie werden ihn doch nicht feuern.«
»Ich weiß es nicht.«
»Er … Das wäre doch absurd«, sagte ich. »Er müsste sich ja schon ganz schön was zuschulden haben kommen lassen, damit sie zu solchen Maßnahmen greifen.«
»Das hat dieses Mädchen gesagt. Sie glaubt, dass er in Ungnade gefallen ist.«
»Ich weiß, dass er sich intensiv mit dem Codex Regius beschäftigt«, sagte ich.
»Dem Codex Regius ?«
»Die allerkostbarste isländische Handschrift überhaupt und das größte Juwel, das wir Isländer besitzen.«
»Du meinst, das die Dänen besitzen?«
»Das sind unsere Handschriften«, erklärte ich mit Nachdruck. »Sie sind isländisch. Es ist nur eine Frage der Zeit, wann wir sie wiederbekommen werden.«
»Und was ist denn so besonders an diesem Codex Regius ?« »Sehr vieles«, sagte ich. »Dieses Buch hat symbolischen Wert für uns als Nation, denn in ihm ist unsere alte Mythologie überliefert und die jahrhundertealte Spruchweisheit des Nordens: ›Der Mensch ist des Menschen Freude‹ und all das. Aber die Handschrift selbst ist auch einmalig als Kunstwerk, als literarisches Werk, als unschätzbares Kunstobjekt. Sie hat nicht ihresgleichen auf der Welt.«
»In der Schule haben wir das irgendwann einmal durchgenommen«, sagte Óskar.
»Die wenigsten sind sich darüber im Klaren, was für eine Bedeutung diese Handschrift tatsächlich hat. Sie sieht sehr unscheinbar aus, aber angeblich ist kein einziges anderes isländisches Kunstwerk wert, gestohlen zu werden.«
»Na schön. Kommst du heute Abend mit uns ins Kino?«, fragte Óskar und stand auf, um seinen Teller abzuräumen. »Wir wollen uns einen Film von Ingmar Bergman anschauen. Sommernatten oder so was Ähnliches.«
»Ich muss lernen«, sagte ich. »Ein anderes Mal gern. Bis bald.«
Ich blieb nachdenklich zurück. Mir ging der Streit des Professors mit dem Dekan der Fakultät durch den Kopf. Konnte es wirklich sein, dass er in Ungnade gefallen war? Hatte das mit seinen Alkoholproblemen oder mit den Handschriften zu tun? Es war selbstverständlich und kam häufig vor, dass Forscher, Hochschullehrer und andere, Pergamenthandschriften ausliehen. Man erzählte sich sogar Geschichten über Studenten, die Handschriften einfach in Kneipen liegen ließen, wenn sie versackt waren. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass dem Professor so etwas
Weitere Kostenlose Bücher