Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
in der dänischen Widerstandsbewegung engagiert hatte. Einige erzählten, er bringe Leute bei sich unter, die aus Dänemark fliehen mussten, andere, dass er Sabotageakte organisierte. Er hatte sich nie öffentlich über seine Gefangennahme geäußert oder darüber, was er als Gefangener der Gestapo erlebt hatte, noch, weshalb er zum Schluss freigelassen worden war.
Seit Kriegsende hatte der Professor an einer neuen wissenschaftlichen Ausgabe des Codex Regius gearbeitet, dem wertvollsten Kleinod, wie er die Handschrift nannte. In dieser Ausgabe wollte er auch seine neueren Forschungsergebnisse über die Eddalieder veröffentlichen. Einige davon hatte er in kleinem Kreis mit ausgewählten Studenten an der Universität diskutiert. Seit dem Ende des Kriegs hatte der Professor die Handschrift zu Forschungszwecken mit Beschlag belegt, sodass kaum ein anderer sie zu Gesicht bekommen hatte. Er hatte eine Sondergenehmigung der Königlichen Bibliothek, das Buch bei sich im Institut aufbewahren zu dürfen, wo er einen Arbeitsplatz hatte. Ein Jahr nach dem anderen verging, ohne dass diese neue Ausgabe das Licht der Welt erblickte. Das Einzige, wodurch der Professor von sich reden machte, waren immer peinlichere und krassere Skandale, wie der bei einem Abendessen in der isländischen Botschaft, als er sturzbetrunken umkippte und im Fallen Tische und Stühle mit sich riss, nachdem er sich kurz zuvor über den schwedischen Botschafter lustig gemacht hatte. Manche seiner Eskapaden kamen sogar in die Zeitung, wie beispielsweise die, als er einen bekannten isländischen Schriftsteller, der in der Adventszeit nach Kopenhagen eingeladen worden war, um aus seinem neuesten Buch vorzulesen, einen »literarischen Armleuchter« nannte.
Es war nichts darüber bekannt, dass er vor oder während des Weltkriegs mit Alkoholproblemen zu kämpfen hatte, aber seine Sucht trat gleich nach Ende des Krieges in Erscheinung und hatte seitdem erheblich zugenommen. Man hielt es für unwahrscheinlich, dass das nach all diesen Jahren noch mit dem tragischen Tod seiner Frau Gitte zusammenhing, zumal es ihm auch nicht ähnlich sah, ihr Andenken mit Saufen zu beschmutzen. Einige waren der Ansicht, dass ihm die Gestapo-Haft mehr zugesetzt hatte,als er zugeben wollte, andere behaupteten dagegen, dass er mit seinen Forschungen am Codex Regius in eine Sackgasse geraten sei, aus der er sich nur schwer herauslavieren könne.
Sogar mein Kopenhagener Freund Óskar wusste mehr darüber als ich, obwohl er Ingenieurwissenschaften studierte. Wir saßen im Kannibalen an der Nørre Allé und aßen das Tagesgericht, gebratene Scholle mit wässrigen Kartoffeln. Das war eine Art Mensa für die Studenten. Direkt daneben war der Bischofskeller, wo die Studentenorganisation ihre Versammlungen abhielt. Es handelte sich um ein Kellergewölbe mit gekalkten Wänden, wo Lesungen gehalten und Reden geschwungen wurden. Das Essen im Kannibalen war das billigste in der ganzen Stadt, ein Abendessen bekam man für eine Krone fünfzig, und mittags konnte man ein ganz anständiges Smørrebrød und ein Glas Milch bekommen. Wenn man ein Bier dazu wollte, kam es natürlich etwas teurer. Óskar schien einen Kater zu haben; er war am Abend zuvor mit ein paar Kommilitonen im Røde Pimpernell gewesen, ein Lokal, das ich noch nicht kannte. Es befand sich am Ende des Rathausplatzes im Kattesund, und dort trafen sich häufig die Isländer. Óskar sagte, der Türsteher dort sei einem für den richtigen Preis durchaus wohlgesonnen.
In diesen Jahren hielten die Isländer in Kopenhagen so eng zusammen, dass sie nur wenig Umgang mit anderen hatten. Viele Isländer dachten wie Óskar an die großen Kraftwerke der Zukunft und studierten Ingenieurwissenschaften, aber es gab auch einige, die in anderen Fächern wie Volkswirtschaft, Nordische Philologie und Psychologie eingeschrieben waren.
Ich war alles andere als ein geselliger Mensch, aber durch die Stadt und das Studium und die isländischen Studenten änderte sich das ein wenig. Wir gingen ins Kino undins Theater und besuchten rauchgeschwängerte Jazzclubs. Gemeinschaftsgeist und Zusammenhalt ließen sich am besten daran ablesen, wie selbstverständlich es war, dass jeweils derjenige, der gerade Geld hatte, in Kneipen oder andernorts die Zeche bezahlte. Geld war nebensächlich für uns, und deswegen waren wir meist ziemlich blank. Wenn man mit sechs- oder siebenhundert Kronen im Monat auskam, hatte man sich wacker geschlagen, denn die Überweisungen
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