Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
passieren würde.
Eine Woche nach der seltsamen Begegnung im Hviids Vinstue und unserem Einbruch in die Königliche Bibliothek – wenn man es denn als einen Einbruch bezeichnen konnte, denn er besaß ja einen Schlüssel – traf ich ihn wieder. Inzwischen hatte ich mich einigermaßen gut eingelebt, mich voller Elan aufs Studium gestürzt und Bekanntschaft mit meinen Kommilitonen geschlossen. In diesem Herbst hatten sich auch noch einige andere Isländer an der gleichen Fakultät eingeschrieben. Zwei waren direkt nach dem Abitur nach Kopenhagen gegangen, und einen kannte ich zwar aus dem Studium in Island, aber nicht besonders gut. Auch wir hielten von Anfang an zusammen. Wir beschlossen, uns jeden Donnerstag in Lille Apoteket in der Skt. Kannikestræde zu treffen, um uns eine Suppe und vielleicht einen Krug Bier einzuverleiben. Ich hatte mit niemandem über mein Erlebnis mit dem Professor an dem Abend, als er sich mit diesen Wagneriten traf, gesprochen und noch nicht einmal meiner Tante davon geschrieben, denn ich wollte ihr um keinen Preis unnötige Sorgen machen. Ich fand es zunehmend schwieriger, ihr etwas über den Professor zu schreiben, den sie so hoch in Ehren hielt. Deswegen versuchte ich, so gut es ging, dieses Thema zu vermeiden, und schrieb stattdessen über das Universitätsleben und das Wetter. Sie war aber neugierig und fragte nach ihm, ob er mich nicht gut behandelte und Ähnliches mehr.
Ich war im Begriff, Lille Apoteket zu verlassen, als ich an einem Tisch in einer Ecke den Professor erblickte. Ich hatte nicht bemerkt, dass er hereingekommen war. Der Unterricht bei ihm war in dieser Woche ausgefallen, und die Studenten tuschelten hinter vorgehaltener Hand etwas über eine Herbstgrippe. Ich zögerte beim Hinausgehen, unsicher, ob ich ihn stören sollte, aber dann ließ ich es darauf ankommen. Seltsamerweise hatte ich ihn vom erstenMoment an, als ich ihn sturzbesoffen in seinem Büro auf dem Boden liegen sah, irgendwie gemocht.
Es war erst kurz nach Mittag, aber er hatte bereits ziemlich schwer geladen. Wie zuvor standen die Haare wirr in alle Richtungen ab, und das Gesicht war von weißen Bartstoppeln bedeckt. Auf dem Stuhl neben ihm lag ein Stapel mit dicken, alten Wälzern. Ich begrüßte ihn und erkundigte mich höflich, wie es ihm ginge. Er murmelte irgendetwas vor sich hin. Ich fragte ihn, ob er diese Deutschen wiedergetroffen hätte, aber das verneinte er zerstreut. Als ich sah, wie tief er in seine Gedanken versunken war, beschloss ich, ihn nicht weiter zu stören, und verabschiedete mich.
»Setz dich einen Augenblick zu mir, Valdemar«, sagte er mit unsicherer Stimme. »Ich muss mit dir reden.«
Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich an seinen Tisch, auf dem drei leere Schnapsgläser und ein Bierkrug standen. Ich begriff schnell, dass er weniger reizbar war, wenn er etwas getrunken hatte.
»Kannst du dir ein paar Tage frei vom Studium nehmen?«, fragte er und beobachtete mich dabei aus den Augenwinkeln. »Um eine Reise mit mir zu unternehmen?«
»Frei?«, fragte ich erstaunt, denn ich hatte keine Ahnung, was das sollte. »Ich verstehe nicht …«
»Nur für ein paar Tage«, sagte der Professor. »Ich mache das wieder gut. Du verlierst nichts dabei, dafür sorge ich.«
Ich starrte den Professor an.
»Aber mein Studium?«
»Wer hat jemals irgendetwas gelernt, indem er in Hörsälen auf dem Arsch saß«, erklärte er. »Komm einige Tage mit mir, und ich verspreche dir, du lernst mehr dabei, als du den ganzen nächsten Winter lernen wirst. Vielleicht sogar in deinem ganzen Leben.«
Er machte den Eindruck, als sei das sein vollster Ernst.
Ich gab ihm keine Antwort darauf. Eine Reise mit ihm reiztemich, das konnte ich nicht leugnen, aber er war betrunken, und ich wusste nicht, wie viel man auf das geben konnte, was er in diesem Zustand sagte.
»Du verpasst nichts!«, flüsterte er. »Was würdest du denn auch schon verpassen? Hier passiert doch tagaus, tagein nichts Neues. Na schön«, sagte er dann, als hätte ich ihm eine Absage gegeben. »Dann fahr ich eben alleine.«
»Wohin soll die Reise gehen?«
»Nach Deutschland.«
Ich war nie in Deutschland gewesen und hatte für das Frühjahr nach Semesterschluss eine Reise dorthin geplant, denn ich hatte oft davon geträumt, einmal Tübingen, die berühmte Universitätsstadt am Neckar, zu besuchen und den Hölderlin-Turm zu besteigen, wo der Dichter in geistiger Umnachtung bis zu seinem Tode lebte.
»Was hast du in Deutschland
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