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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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besorgen und mir
zu Hause einen Tee zu kochen. Seltsamerweise bedauerte ich den Verlust meines
Handys - das ohnehin gegen Diebstahl versichert war - weit weniger als die
Tatsache, dass meine ersehnte Kontaktaufnahme nicht wie geplant verlaufen war.
    In dem Augenblick hörte ich
wieder Schritte. Laufschritte diesmal. Und dieselben keuchenden, unregelmäßigen
Atemzüge. Es war mein Straßenräuber. Er rannte direkt an meiner Bank vorbei,
ohne auf mich zu achten, dann blieb er plötzlich stehen, schaute zu mir her und
strich sich mit der Hand durchs Haar.
    »Scheiße«, sagte er. »Scheiße!«
    »Was ist los?«, fragte ich. Er wirbelte herum. »Hä?«
    Erst auf den zweiten Blick schien
ihm klar zu werden, dass er die Person vor sich hatte, der er eben das Handy
geklaut hatte.
    »Was ist los?«, wiederholte ich meine Frage.
    Es dauerte noch ein paar
Sekunden, bis er die Situation bewertet hatte und zu dem Schluss gekommen war,
dass ich ihn nicht auf den Arm nahm. Er sagte: »Ich hab mich verlaufen, Mann.
Verdammte Scheiße! Wie komm ich von hier zum Bahnhof?«
    Beim Klang dieser Worte ging mir das Herz auf.
    »Also, hier gibt es zwei Bahnhöfe. Wohin soll die
Reise gehen?«
    »London, Mann. Ich muss sofort zurück nach London.«
    »Dann sind Sie mit der Watford
Junction besser dran. Das sind etwa zehn bis fünfzehn Minuten zu Fuß. Gehen Sie
einfach diese Straße weiter, bis Sie zur Lower High Street kommen, dann biegen
Sie nach links ab und gehen geradeaus bis zur großen Kreuzung mit der
Ringstraße ...«
    »Ringstraße? Wo die vielen Verkehrsampeln stehen?«
    »Richtig. Sie überqueren die
Ringstraße, lassen den Eingang zum Harlequin rechts liegen und den großen
Waterstone's ...«
    »Okay, okay, ich kenne das
Harlequin, von dort aus finde ich den Weg. Wunderbar. Wirklich großartig, ich
bin gerettet, Mann.«
    »War mir ein Vergnügen«, sagte
ich und lächelte ihm direkt ins Gesicht - ein Fehler, denn er fing gleich
wieder an zu schreien: »Nicht mein Gesicht angucken, Mann, bloß nicht mein
Gesicht angucken!«, dann drehte er sich um und lief im Sprinttempo zum Ende des
Parks und weiter die Straße entlang, die zur Lower High Street führte.
     
    Der Jetlag musste mich schlimm
erwischt haben, ich konnte nicht klar denken. Während ich hinüber zu dem
Lebensmittelgeschäft schlenderte, fiel mir zu dem Überfall nur ein, dass er
eine gute Geschichte für Poppy abgeben würde, und ich war tatsächlich so
zufrieden darüber, ihr die Geschichte erzählen zu können und einen Vorwand zu
haben, sie noch heute Vormittag anzurufen, dass ich mir in bester Laune eine
skurrile, finstere SMS zu dieser Episode überlegte. Erst als ich meinen Koffer
vor dem Milchladen abstellte, fiel mir ein, dass ich ihr gar keine SMS schicken
konnte, weil ich kein Handy mehr hatte, und weil ich kein Handy mehr hatte,
hatte ich auch ihre Telefonnummer nicht mehr und auch sonst keine Möglichkeit,
Kontakt mit ihr aufzunehmen. Ja, so war das.
    Ich ging in den Laden, um die Milch zu kaufen.
     
    7
     
    Als ich meine Haustür
aufstieß, fürchtete ich, einen Berg Postwurfsendungen vorzufinden. Aber so
viele waren es gar nicht. Ein Dutzend Umschläge vielleicht. Nach einer
Abwesenheit von drei Wochen hatte ich mir das ehrlich gesagt schlimmer
vorgestellt.
    Ich ließ meinen Koffer im Flur
stehen, klaubte die Briefe auf und trug sie ins Wohnzimmer. Drinnen überkam
mich ein Frösteln. Ich muss wohl nicht erwähnen, dass mich keine Radiomusik
aus der Küche erwartete, kein frischer Kaffeeduft durch den Flur zu mir herüberwehte.
Caroline und Lucy waren - das hatte ich natürlich gewusst - über dreihundert
Kilometer weit weg. Aber vielleicht war einer dieser Briefe von ihnen. Nachdem
sie fortgezogen waren, hatte Lucy mir noch ziemlich oft geschrieben - so alle
paar Wochen - und meistens etwas dazugelegt, das sie in der Schule gemacht
hatte, eine Zeichnung, eine Collage oder einen Aufsatz. Aber in letzter Zeit
waren ihre Briefe seltener geworden. Ich glaube, den letzten hatte ich im November
bekommen. Also, mal sehen ... Ich blätterte die Umschläge durch und sah
schnell, dass nichts von ihr dabei war. Drei Kreditkarten-Abrechnungen. Briefe
von Energieversorgern, die um Kunden buhlten. Kontoauszüge, Handyrechnungen.
Der übliche Mist. Nichts von irgendwelchem Interesse.
    Ich ging in die Küche, um die
Heizung aufzudrehen und Wasser zu kochen, und während ich das tat, fiel mein
Blick auf den an der Wand montierten Anrufbeantworter. Eine Zahl blinkte

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