Coe, Jonathan
mir
entgegen. »Fünf«. Fünf telefonische Nachrichten nach fast einem Monat Abwesenheit.
Lächerlich. Sollte ich es riskieren, sie abzuhören?
Um Mut zu sammeln, ging ich
erst einmal nach oben und in das hintere Schlafzimmer, um meinen Computer
hochzufahren. Wie jedes Mal bestand die Kunst darin, den Raum zu betreten und
zu tun, was getan werden musste, ohne mich umzusehen. Darin hatte ich
inzwischen Routine. Ich musste es so machen, weil es Lucys Zimmer war.
Wahrscheinlich wäre es vernünftiger gewesen, es zu renovieren, nachdem sie und
Caroline ausgezogen waren, aber ich hatte es einfach nicht fertiggebracht -
noch nicht. Und deshalb hing noch die rosa Mädchentapete an den Wänden, die sie
so mochte, mit den Tesafilmresten an den Stellen, wo sie die Poster aus ihren
Tiermagazinen befestigt hatte - riesige Nahaufnahmen schlafender Hamster,
überirdisch possierlicher Beutelmäuse und Ähnlichem. Wenigstens waren die
Poster selber verschwunden. Aber allein die Tapete war eine schmerzhafte
Erinnerung. Vielleicht sollte ich sie mir diese Woche vornehmen. Man musste sie
ja nicht abreißen, ich konnte sie einfach überstreichen - drei oder vier
Schichten weiße Deckfarbe, und das Blümchenmuster wäre verschwunden. Aber bis
dahin machte ich mit dem Tunnelblick weiter, begrenzte mein Gesichtsfeld auf
die Dinge, mit denen ich mich befassen wollte. Das machte es mir leichter.
Zurück in der Küche, goss ich
mir einen Becher starken Tee auf und trank ein paar Schlucke, bevor ich den
Startknopf des Anrufbeantworters drückte. Meiner leicht zittrigen Vorfreude war
nur ein kurzes Leben beschieden. Eine Nachricht von meinem Arbeitgeber machte
mich darauf aufmerksam, dass in ein paar Tagen das letzte Gespräch mit der
Arbeitsschutz-Beauftragten anstand. Außerdem waren noch zwei Nachrichten von
meinem Zahnarzt auf dem Band: eine automatische, die mich auf den Kontrolltermin
von vor zwei Wochen aufmerksam machte (den ich komplett vergessen hatte), und
eine von einer echten Person, am folgenden Tag hinterlassen, die mich fragte,
warum ich nicht erschienen sei, und mich darauf hinwies, dass ich die
Kontrolluntersuchung trotzdem bezahlen musste. Dann gab es noch zwei leere
Nachrichten, einfach lang gezogene elektronische Pieptöne, an deren Ende man
jemanden auflegen hörte. Eine von ihnen könnte von Caroline gewesen sein, aber
die Inverssuche brachte in dem Fall nichts, weil beide Anrufe vor denen meines
Zahnarztes eingegangen waren. So viel zum Telefon.
Na gut, vielleicht vermochte
Facebook meine Stimmung zu heben. Dort hatte ich immerhin siebzig Freunde. Da
dürfte es hoch hergegangen sein während meiner Abwesenheit. Ich nahm meinen Tee
mit nach oben, machte es mir vor meinem Computer bequem und loggte mich ein.
Nichts.
Schockiert starrte ich auf den
Bildschirm. Nicht ein einziger Freund hatte mir im letzten Monat eine Nachricht
geschickt oder mir irgendetwas an die Pinnwand geheftet, mit anderen Worten,
nicht einer dieser siebzig Menschen hatte während meiner Abwesenheit an mich
gedacht.
Mein Bauch fühlte sich
plötzlich hohl an. Ein Brennen in den Augen kündigte die Tränen an. Schlimmer
hätte es kaum kommen können.
Blieb nur noch eine Hoffnung:
E-Mail. Durfte ich es wagen, Outlook Express zu öffnen? Wenn mein Posteingang
nun dieselbe Geschichte erzählte?
Meine Finger bewegten sich
mechanisch, roboterhaft über die Tastatur. Ich umklammerte die Maus in der
rechten Hand und nahm den Blick nicht vom Bildschirm, der sich mit der
Willkommensmeldung des Programms füllte und der dann die Betreffzeilen früher
eingegangener Mails anzeigte. Langsam, begleitet von Herzklopfen - ein Abgrund
der Furcht öffnete sich in meinem Bauch -, bewegte ich den Cursor über den
Bildschirm und klickte den Schicksalsbutton an: »Senden/Empfangen«.
Die Dialogbox erschien. Die
Fortschrittsmeldungen blitzten auf: Suche Host. Verbunden. Erhalte
Berechtigung. Verbunden. Dann ein paar Sekunden Pause, der Computer schien mich
ärgern, sich an meiner Qual weiden zu wollen, bis - JA! - o Freude über Freude
- »Empfange Liste der Nachrichten vom Server«, und - ich konnte es kaum glauben
- die erste Nachricht mit einer verblüffenden Verheißung erschien: »Empfange
Nachricht 1 von 137«.
Einhundertsiebenunddreißig
Nachrichten! Wie war das möglich? Wer wollte behaupten, ich hätte keine
richtigen Freunde?
Neben meinem
>Posteingang<-Icon türmten sich die Zahlen jetzt rasch auf. Zwanzig
Nachrichten, sechzig, fünfundsiebzig - sie
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