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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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Sie
waren sehr blass; eigentlich war die ganze Familie blass. Ich lauschte eine
Weile ihrer Unterhaltung. Er flog für ein paar Tage nach Moskau, und seine
Familie hatte ihn zum Flughafen gebracht. Aus irgendeinem Grund schien die
anstehende Reise ihn nervös zu machen, aber seine Frau versuchte ihn zu
beruhigen, sagte Sätze wie: »Du hast das doch schon Dutzende Male gemacht.« Er
wies auf die vielen Interviews hin, die er würde geben müssen, und ich fragte
mich, ob er eine Berühmtheit war und ich ihn bloß nicht erkannte. Nach ungefähr
zehn Minuten gingen sie wieder.
    Mein Cappuccino war immer noch
zu heiß zum Trinken. Ich nahm mein Handy vom Tisch, holte Poppys Nummer aus dem
Speicher und schaute sie mir an. Ich wünschte, ich hätte Gelegenheit gehabt,
ein Foto von ihr zu machen, bevor sie verschwunden war, aber ich wusste, wie
merkwürdig eine solche Bitte geklungen hätte. Damit hätte ich sie bestimmt
vergrault. Und jetzt hatte ich nichts von ihr außer der Handynummer. Ein
Gesicht, eine Persönlichkeit, ein Paar lebendige Augen, ein Körper, ein
menschliches Wesen, das alles reduziert auf elf Ziffern auf einem Display. Das
alles irgendwie enthalten in dieser magischen Zahlenkombination. Immerhin
besser als nichts. Ich hatte die Möglichkeit, Kontakt mit ihr aufzunehmen.
Poppy gehörte jetzt zu meinem Leben.
    Ich probierte vorsichtig von
dem Cappuccino, der mir vor einer knappen halben Stunde serviert worden war,
erschrak, als die noch immer brühheiße Flüssigkeit mir spitze Nadelstiche durch
Lippen, Zunge und Gaumen jagte, und gab es auf. Ich zerrte meinen Koffer unter
dem Tisch hervor und probierte mein Glück noch einmal bei der Taxischlange.
     
    Es war ungefähr neun Uhr
morgens, als ich mich meiner Wohnung näherte. Zusammengesackt im Fond eines
Taxis starrte ich aus müden Augen hinaus auf die monochrome Trostlosigkeit des urbanen Hertfordshire. Wir schrieben die dritte Woche des Februar 2009, der
Himmel versteckte sich hinter dichten Wolken, nie hatte die Welt grauer
ausgesehen, nie sich kälter angefühlt als an diesem Morgen. Ich dachte an das Land, aus dem ich gekommen
war: voller Wärme, Farben, Vitalität. Das tiefe Blau des Sommerhimmels über
Sydney, das blendende Spiel des Lichts auf dem Wasser des Hafens. Und jetzt das
hier. Das windige, verregnete Watford.
    »Wenn Sie mich bitte hier
rauslassen«, sagte ich zu dem Taxifahrer.
    Er sah mich leicht verwundert an, als ich meinen Koffer vom
Vordersitz des Taxis zog und ihm das Fahrgeld zahlte (fünfzig Pfund plus
Trinkgeld). Aber ich wusste - auch wenn ich den bösen Augenblick nur
hinausschob -, dass ich nicht gleich nach Hause gehen konnte. Ich brauchte noch
Zeit, musste erst Kraft sammeln. Und so bog ich, meinen Koffer hinter mir
herziehend, von der Lower High Street nach links ab und ging die Watford Field
Road hinauf. Als ich beim Park angekommen war, ließ ich mich auf einer Bank
nieder. Die Holzlatten waren nass, die feuchte Kälte sickerte mir durch Hose
und Unterhose in die Haut. Es war mir egal. Mein Haus stand keinen
Kilometer von hier entfernt, und ich konnte in ein paar Minuten dort sein, aber
bis dahin wollte ich einfach nur auf dieser Bank sitzen, nachdenken, die
Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit beobachten - mich vergewissern, vermutete
ich, dass ich noch irgendeine Verbindung zu diesen Menschen spürte: meinen
Mitmenschen, meinen britischen Landsleuten, meinen Watforder Mitbürgern.
    Eine harte Probe.
    Es dürfte etwa alle dreißig
Sekunden jemand an meiner Bank vorbeigekommen sein, aber niemand wünschte
mir einen guten Tag, nickte mir zu, suchte auch nur Blickkontakt. Im Gegenteil,
immer wenn ich Blickkontakt
suchte oder so schaute, als wollte ich jemanden ansprechen, wandten sie - jäh
und demonstrativ - den Blick ab und beschleunigten den Schritt. Man hätte
annehmen sollen, dass vor allem Frauen es so machten, aber das stimmte nicht -
die Männer schienen sich mindestens genauso vor der Aussicht zu fürchten, ein
Fremder könnte sich, wie flüchtig auch immer, mit ihnen beschäftigen wollen. Es
war ernüchternd zu erleben, dass schon der winzige Funken menschlicher
Zusammengehörigkeit, den ich zwischen uns entzünden wollte, ihnen Angst einjagte
und sie in die Flucht trieb.
    Für alle, die Watford Field
nicht kennen: Hierbei handelt es sich um ein Stückchen Parklandschaft, kaum
größer als zweihundert mal zweihundert Meter, so nah an den großen Durchgangss traßen Waterfields Way und Wiggenhall
Road gelegen, dass

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