Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
Vom Netzwerk:
verirrten Nachricht
und schaute sie mir genauer an. Sie war von Trevor - Trevor Paige. Es war eine
richtige E-Mail von einem richtigen Menschen. In einem Rausch des Glücks und
der Erleichterung klickte ich sie an und las die Worte, die mir in diesem
Augenblick so eloquent wie ergreifend vorkamen, so voller Liebreiz und
Sinngehalt wie nur irgendetwas, das Shakespeare oder ein vergleichbarer Poet
verfasst hatte.
     
    Hi max bin mittwoch in watford lust auf'n Bier Gruß
trev
     
    Nachdem ich diese Nachricht so
oft gelesen hatte, dass sie sich in mein Gehirn eingebrannt hatte, legte ich
die Arme auf meine Computertastatur, bettete meinen Kopf darauf und entließ
einen Seufzer aufrichtiger und tief empfundener Dankbarkeit.
     
    8
     
    Ein paar Minuten später ging ich zu Bett. Eigentlich
hatte ich dem Jetlag trotzen wollen, aber die Müdigkeit war stärker. Ich
schlief sofort ein, auch wenn es ein unruhiger Schlaf war.
    Kennt ihr die Träume, die halb
Traum und halb etwas anderes sind? Als weigerte sich das Wachbewusstsein - bei
aller Erschöpfung -, still zu liegen und das Unbewusste ans Ruder zu lassen. So
ungefähr war es zuerst. Immer wieder sah ich Bilder meines alten Schulfreunds
Chris Byrne und seiner Schwester Alison, aber ich hätte nicht sagen können, ob
diese Bilder aus einem Traum oder einer Erinnerung stammten. Wir waren
Teenager, und ich hielt mich mit den beiden an einem Ort auf, den ich nicht
erkannte; es war irgendwo auf dem Land, ringsherum waren Wälder. Chris hatte
langes Haar, Siebziger Jahre-Stil, und sah aus, als hätte er das Rasieralter
bereits erreicht: Rudimente eines Barts wuchsen ihm in Büscheln ums Gesicht
herum. Er saß im Schneidersitz auf einem Teppich aus Blättern, spielte auf
seiner Gitarre und nahm weder von mir noch von Alison Notiz. Am Waldrand gab es
eine glitzernde Wasserfläche, auf die Alison zuging. Im Gehen, mit dem Rücken
zu mir, fasste sie den unteren Saum ihres T-Shirts und zog es sich langsam über
den Kopf, verführerisch, mit einem auffordernden Blick zurück zu mir. Darunter
trug sie ein orangerotes Bikinioberteil. Ihre Haut war glatt, makellos und
sonnenbraun.
    Meine Nachbarin trug
irgendwelches Gerumpel hinaus zu ihrer Mülltonne, und das Klappern des Deckels
riss mich aus dem Schlaf. Ich setzte mich im Bett auf und sah auf die Uhr: halb
drei, Nachmittag. Ich sank in die Kissen zurück, starrte an die Decke, war auf
einmal hellwach. Warum hatte ich von Chris und Alison geträumt - oder an sie
gedacht? Wahrscheinlich, weil mein Vater während der vergangenen drei Wochen
mich unter anderem ständig mit der Frage genervt hatte, was Chris machte und ob
wir uns immer noch sahen. Typisch, dass er gerade darauf herumritt; typisch,
dass er (unwissentlich?) nicht aufhörte, auf einem meiner schwächsten Punkte
herumzuhacken, bis ich ihm jedes Mal beinahe an die Gurgel gesprungen wäre,
wenn er wieder damit anfing. Vielleicht hätte ich das schon früher erklären
sollen, aber Chris war mein ältester Freund, noch aus der Grundschulzeit in
Birmingham. Seitdem war ich eigentlich durchgehend mit ihm in Kontakt
geblieben, bis Caroline, Lucy und ich vor fünf Jahren mit Chris und seiner
Familie nach County Kerry in die Ferien gefahren waren. Der Urlaub war eine
Katastrophe gewesen - eine Katastrophe wegen eines Unfalls, der seinem Sohn Joe
passiert war, der dabei ziemlich böse Verletzungen erlitten hatte. Nach diesem
Unfall war viel mit Beschuldigungen herumgeworfen worden, in verschiedene
Richtungen, viele Dinge, die besser ungesagt geblieben wären, mit dem Ergebnis,
dass Chris und seine Familie früher abgereist waren. Seitdem hatte er keinen
Kontakt mehr mit mir gesucht. Wahrscheinlich hat er darauf gewartet, dass ich
mich bei ihm melde, aber ich fühlte mich nicht in der Lage dazu, weil ... na
ja, jetzt ist nicht der rechte Zeitpunkt, das zu erklären. Das ist alles sehr
kompliziert. Aber warum die Höhen und Tiefen meiner Freundschaft zu Chris von
Interesse für meinen Vater sein sollten (»Wie geht's ihm denn?«, fragte er
ständig. »Wann hast du ihn zuletzt gesehen? Wen hat er geheiratet?«), darf man
getrost als eines der großen ungelösten Rätsel des Lebens bezeichnen.
    Ich blieb noch eine Weile im Bett liegen, dachte über
dieses Bild von uns dreien in den Wäldern nach. Und dann wurde mir klar, wo es
herkam: In dem langen, heißen Sommer 1976 (dem Dürresommer, als den ihn Leute
meines Alters immer im Gedächtnis behalten werden) waren unsere beiden Familien
zu

Weitere Kostenlose Bücher