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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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der Verkehrslärm durchgehend zu hören ist. Es ist also nicht
gerade eine Oase der Ruhe, aber heutzutage muss man froh über jeden Flecken
Grün sein, auf den man sich mal zurückziehen kann. Nach einer Weile begann ich
mich dort seltsam aufgehoben zu fühlen an diesem Morgen, und trotz Feuchtigkeit
und Kälte blieb ich viel länger sitzen, als ich vorgehabt hatte. Natürlich
kamen immer weniger Leute vorbei, je später es wurde. Schließlich kam der
Moment, an dem ich seit zehn Minuten niemanden mehr zu sehen bekommen hatte.
Und es war über eine Stunde her, seit ich zum letzten Mal ein Wort mit jemandem
gewechselt hatte - sofern man meinen gemurmelten Abschiedsgruß an den
Taxifahrer überhaupt als Wortwechsel bezeichnen darf. Offenbar wurde es Zeit,
hier Schluss zu machen und mich der abweisenden Leere meines Hauses zu stellen.
    Dann tauchte ein Mann auf, er
bog aus dem Farthing Close und kam direkt auf mich zu. Und etwas in der
Unsicherheit seines Gangs, etwas Zögerliches in seiner Haltung brachte mich auf
den Gedanken, er könnte der Richtige sein. Er schien Anfang zwanzig, trug einen
marineblauen Fleecepulli und stonewashed Röhrenjeans. Er hatte einen dichten,
lockigschwarzen Haarschopf und zeigte erste Anzeichen eines Schnauzbarts -
zaghaft, wie alles an ihm. In offenbarer Verwirrung blickte er um sich, und ehe
er meine Bank erreichte, blieb er zwei Mal stehen, drehte sich um und ließ den
Blick schweifen, als hielte er Ausschau nach alternativen Richtungen, in die
er hätte gehen können. Anscheinend hatte er sich verlaufen. Genau, das musste
es sein - er hatte sich verlaufen! Und was macht jemand, der sich verlaufen
hat? Er bleibt stehen und erkundigt sich nach dem Weg. Und genau das würde er
tun. Wahrscheinlich wollte er zum Bahnhof an der High Street. Oder ins General
Hospital. Beides war in der Nähe. Er würde mich nach dem Weg fragen, und wir
würden ins Gespräch kommen. Sogar den Verlauf des Gesprächs konnte ich mir
schon vorstellen. Er hatte mich noch gar nicht angesprochen, da probte ich es bereits
in Gedanken. »Wohin des Wegs, mein Freund? Zum Bahnhof? High Street Station ist
gleich um die Ecke, aber wenn Sie nach London wollen, sind Sie mit der Watford
Junction besser dran. Das sind etwa zehn, fünfzehn Minuten zu Fuß. Weiter die
Straße entlang - zurück zur Lower High Street - und dann links abbiegen und
immer geradeaus, bis Sie zu der großen Kreuzung mit der Ringstraße kommen ...«
    Ich hörte schon seine
Schritte, die sich immer rascher näherten, und seinen irgendwie unregelmäßigen,
gehetzt klingenden Atem. Ich sah, dass er jetzt fast bei mir war. Und dass er
nicht ganz so freundlich dreinblickte, wie ich es mir vorgestellt hatte.
    »Dann überqueren Sie die
Ringstraße«, fuhr ich in Gedanken unbeirrt fort, »und lassen den Eingang zum
Harlequin rechts liegen und den großen Waterstone's ...«
    »Gib mir dein Handy.«
    Die Stimme in meinem Kopf
verstummte augenblicklich.
    »Wie bitte?« Ich schaute hoch
und sah ihn auf mich herabstarren, sein Gesicht eine Mischung aus Böswilligkeit
und Angst.
    »Her mit dem Scheißhandy, aber
schnell.«
    Ohne weitere Widerworte
zwängte ich die Hand in die Hosentasche und versuchte, mein Mobiltelefon
herauszuziehen. Bei der engen Hose kein leichtes Unterfangen.
    »Tut mir leid.« Ich verrenkte
und mühte mich. »Irgendwie will es nicht ...«
    »Nicht angucken!«, rief der
Mann (der eigentlich mehr wie ein Junge aussah). »Nicht mein Gesicht angucken!«
    Ich hatte das Telefon
weitestgehend aus meiner Hosentasche herausbefördert. Welche Ironie: Mein
letztes Modell war ein superschlankes Nokia gewesen, das ohne Weiteres herausgeflutscht
wäre. Für das klobigere Sony Ericsson hatte ich mich entschieden, um MP3's
abspielen zu können. Aber ob das der rechte Moment für derlei Erklärungen war?
    »Na endlich«, sagte ich und
hielt ihm das Handy hin. Er riss es mir brutal aus der Hand. »Kann ich sonst
noch etwas für Sie tun - Bargeld, Kreditkarten ...?«
    »Fick dich!«, rief er und
rannte den Farthing Close hinauf, in die Richtung, aus der er gekommen war.
    Das alles war binnen weniger
Sekunden passiert. Auf die Bank zurücksinkend, blickte ich seiner kleiner
werdenden Gestalt nach. Ich zitterte leicht, beruhigte mich aber schnell
wieder. Mein erster Impuls war, 999 zu wählen und die Polizei zu rufen, aber
ich hatte ja gar kein Telefon mehr. Mein zweiter Impuls war es, den Koffer nach
Hause zu rollen, mir unterwegs im Lebensmittelladen Milch zu

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