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Coe, Jonathan

Coe, Jonathan

Titel: Coe, Jonathan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Die ungeheurliche Einsamkeit des Maxwell Sim
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einem gemeinsamen Campingurlaub in den Wäldern nahe Coniston Water oben im
Lake District gewesen. An viel mehr kann ich mich nicht erinnern, nur dass mein
Vater in dieser Woche sehr viele Fotos gemacht hatte, die alle noch irgendwo in
einem Album herumlagen. Richtig, in dem gefürchteten rosa Kinderzimmer, wenn
ich mich nicht sehr täuschte.
    Ich ging das Album holen, trug
es zurück ans Bett, schaltete die Nachttischlampe an und lehnte mich in die
Kopfkissen zurück. Das Album war in dunkelblaues Kunstleder gebunden, und die
eingeklebten Abzüge hatten bessere Tage gesehen, ihre einst kräftigen Farben
waren stark ausgebleicht. Außerdem hatte ich vergessen, was für ein lausiger
Fotograf mein Vater war. Das heißt, es waren sicher ausgezeichnete Fotos, wenn
man auf Naturfotografie stand, auf extreme Nahaufnahmen von seltsamen
Felsbrocken, deren frei liegende Oberflächenstrukturen offenbar seine Fantasie
angeregt hatten, aber wenn man nach Erinnerungen an einen Familienurlaub
suchte, verschwendete man mit diesen Bildern seine Zeit.
    Ich blätterte ungeduldig
weiter und fragte mich, warum es ihm nicht möglich gewesen war, auch nur ein
einziges Foto von mir oder meiner Mutter zu machen. Oder überhaupt von
irgendeinem menschlichen Wesen. Aber ich wusste, dass es mindestens ein Foto
von Chris und Alison in dem Album gab - ein Bild, an das ich mich deutlich
erinnerte, obwohl ich es seit mindestens zehn Jahren nicht mehr gesehen hatte
-, und als ich es schließlich fand, auf der allerletzten Seite des Albums,
wurde mir klar, dass die Bilder, die ich an dem Morgen im Bett gesehen hatte,
seltsame Bastarde gewesen waren: halb Erinnerung, halb Traum. Auf diesem Foto
standen Chris und seine Schwester an einem grauen, sonnenlosen Nachmittag bis
zu den Knien im Wasser. Ihre Haare waren nass vom Schwimmen, und besonders
Alison sah ziemlich verfroren aus.
    Sie trug diesen orangeroten
Bikini, und das gleichmäßige Sonnenbraun ihres jungen Körpers wurde abgerundet
durch das kastanienbraune, hinten und an den Seiten jungenhaft kurz
geschnittene Haar.
    Ich gähnte laut, ließ das
Fotoalbum auf die Bettdecke sinken. Das Licht der Nachttischlampe fiel jetzt
in einem anderen Winkel auf das Bild von Chris und Alison, und ich bemerkte
etwas Seltsames: Wenn man genau hinsah, konnte man erkennen, dass das Foto
irgendwann einmal in der Mitte geknickt worden war, ein feiner Falz teilte es
in gerader Linie exakt in zwei Hälften. Wieso das? Ich gähnte wieder, wandte
den Blick von dem Album und streckte die Hand zum Schalter der Nachttischlampe
aus. In so einem Zustand musste man gar nicht versuchen, einen klaren Gedanken
zu fassen. Ich wusste, dass ich längst noch nicht ausgeschlafen war. Mein
letzter Gedanke galt nicht der zerbrochenen Freundschaft mit Chris Byrne oder
den früher einmal komplizierten Gefühlen für seine Schwester, sondern Poppy.
Ich konnte es kaum fassen, dass ich ihre Nummer nicht mehr hatte. Und ihren
Nachnamen hatte sie mir nicht verraten.
     
    Kurz vor sieben wachte ich
wieder auf und tat gleich danach etwas, dessen ich mich sehr schäme, etwas, für
das ich meinen Computer und das Internet missbrauchte. Eigentlich wollte ich
gar nicht darüber reden, aber wenn es nun schon darum geht, hier die ganze
Geschichte zu erzählen, ungeschönt, dann kann ich es wohl nicht gut
verschweigen. Wie soll ich es erklären?
    Es hat etwas mit Caroline zu
tun. Mit Caroline und der Tatsache, dass sie mir immer noch sehr fehlte.
    Es ist so, dass ich - neben
E-Mail und Telefon - noch eine dritte Methode hatte, mit Caroline in Kontakt zu
treten, auf die ich nur in Ausnahmefällen zurückgriff, weil ich mir deshalb ein
bisschen billig, ein bisschen gemein vorkam, ein bisschen wütend auf mich
selber war. Und trotzdem kam es immer wieder mal vor, dass diese Methode -
wenn ich sie besonders stark vermisste, wenn ich mehr von ihr brauchte als
höfliches Kurzgeplauder, ein paar geschäftsmäßige Sätze über Lucys Fortschritte
in der Schule - mir wie meine letzte Option erschien. Es fing ganz harmlos an.
    Während unserer Ehe, als Lucy
etwa fünf oder sechs war, fing Caroline auf einmal an, das Internet viel häufiger
zu nutzen als vorher. Ich glaube, der Auslöser war ein hässlicher Halsausschlag,
den Lucy eines Tages bekam. Caroline ging ins Netz, um etwas zu finden, was
sich dagegen tun ließ. Früher oder später führte sie das zu einer Website
namens Mumsnet, auf der sie viele Mütter fand, die genau diese Art von
Problemen

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