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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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Beauty auf ihn los; noch einmal rettete er sie. Dann, Wunder der
Wunder, fuhr er den halb auseinandergenommenen Rasenmäher auf die Seite und
begann, eine Hand dem Baby hinhaltend, die andere Hope, sich im Kreis zu
drehen, erst langsam, dann schneller. Hope, in ihren roten Sandalen, mußte
rennen, um auf den Beinen zu bleiben, während das Baby, quietschend vor Vergnügen,
durch die Luft wirbelte; und der Hund, vor dem Tor ausgeschlossen, sprang und
bellte. Welcher Lärm! Welche Aufregung!
    In dem Moment muß Florence
aufgetaucht sein, denn das Kreiseln verlangsamte sich und hörte auf. Ein paar
leise Worte, und Hope ließ Vercueils Hand los, lockte ihre Schwester weg, und
sie entschwanden meinem Sichtbereich. Ich hörte, wie eine Tür zuging. Der Hund
winselte enttäuscht. Vercueil kehrte zurück zu dem Rasenmäher. Eine halbe
Stunde später begann es zu regnen.
    Der Junge,
Bheki, verbringt seine Zeit damit, auf Florences Bett sitzend alte Illustrierte
durchzublättern, während aus einer Ecke des Zimmers Hope zuschaut und ihn
anhimmelt. Manchmal, wenn er das Lesen leid geworden ist, steht er in der
Auffahrt und läßt einen Tennisball von der Garagentür abprallen. Der Lärm macht
mich wahnsinnig. Obwohl ich ein Kissen über den Kopf ziehe, erreicht das
erbarmungslose Gebumse mich noch immer. »Wann machen die Schulen wieder auf?«
frage ich gereizt. »Ich werd ihm sagen, er soll aufhören damit«, sagt Florence.
Eine Minute später hört das Gebumse auf.
    Voriges
Jahr, als es anfing mit den Unruhen in den Schulen, habe ich Florence die
Meinung gesagt. »Zu meiner Zeit haben wir es als ein Vorrecht angesehen, zur
Schule zu gehen«, sagte ich. »Die Eltern haben gedarbt und gespart, um ihre
Kinder zum Unterricht schicken zu können. Wir hätten es für Wahnsinn gehalten,
eine Schule niederzubrennen.«
    »Heute ist das anders«,
hatte Florence erwidert.
    »Findest du
es richtig, daß Kinder ihre Schulen niederbrennen?«
    »Ich kann
diesen Kindern nicht sagen, was sie tun sollen«, war ihre Antwort gewesen. »Es
hat sich jetzt alles verändert. Es gibt keine Mütter und Väter mehr.«
    »Das ist Unsinn«, hatte ich
gesagt. »Es gibt immer Mütter und Väter.« Auf diesen Ton hatte unser
Wortwechsel geendet.
    Von Unruhen
in den Schulen sagt das Radio nichts, das Fernsehen sagt nichts, die Zeitungen
sagen nichts. In der Welt wird der Eindruck erweckt, alle Kinder des Landes
säßen friedlich in ihren Schulbänken und lernten etwas über das Quadrat auf der
Hypotenuse und die Papageien im Dschungel am Amazonas. Was ich von den
Vorfällen in Guguletu weiß, hängt allein von dem ab, was Florence mir erzählt
und was ich dadurch in Erfahrung bringe, daß ich auf dem Balkon stehe und nach
Norden spähe: nämlich daß Guguletu heute nicht brennt oder, falls es brennt,
mit kleiner Flamme brennt.
    Das Land
ist am Schwelen, doch beim besten Willen der Welt kann ich das nur halb zur
Kenntnis nehmen. Meine eigentliche Aufmerksamkeit ist ganz nach innen gerichtet,
auf das Ding, das Wort, das Wort für das Ding, das sich unaufhaltsam breitmacht
in meinem Körper. Eine schändliche Beschäftigung, und in Zeiten wie diesen auch
eine lächerliche, so wie ein Bankier in brennender Kleidung ein Witz ist,
während ein brennender Bettler es nicht ist. Doch ich kann mir nicht helfen.
»Sieh mich an!« möchte ich Florence ins Gesicht schreien – »Ich brenne auch!«
    Die meiste Zeit halte ich
die Buchstaben des Wortes sorgfältig auseinander wie die Brechbacken einer
Falle. Wenn ich lese, lese ich behutsam, Zeilen oder sogar ganze Absätze
überspringend, wenn ich aus einem Augenwinkel den Schatten des Wortes gewahre,
das im Hinterhalt liegt.
    Aber im
Dunkeln, im Bett, allein, wird die Versuchung, es anzusehen, zu stark. Fast
fühle ich mich zu ihm hingestoßen. Ich sehe mich als ein Kind in einem langen
weißen Kleid und mit Strohhut auf einem großen, leeren Strand. Überall um mich
herum fliegt Sand. Ich halte meinen Hut fest, pflanze die Füße in den Boden,
stemme mich gegen den Wind. Aber nach einer Weile an diesem einsamen Ort, wo
niemand mich beobachtet, wird die Anstrengung zu groß. Ich entspanne mich. Wie
eine Hand im Kreuz gibt der Wind mir einen Stoß. Es ist eine Erleichterung, den
Widerstand aufzugeben. Zuerst gehend, dann rennend, lasse ich mich treiben vom
Wind.
    Er treibt mich, Nacht für
Nacht, zum Kaufmann von Venedig. »Esse ich nicht, schlafe ich nicht,
atme ich nicht wie ihr?« schreit Shylock der Jude: »Blute ich

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