Coetzee, J. M.
nicht wie ihr?« –
wobei er, aufgespießt auf einen Dolch, ein Pfund blutigen Fleisches schwingt.
»Blute ich nicht wie ihr?« kommen die Worte des Juden mit langem Bart und
Schädelkäppchen, während er in Wut und Qual auf der Bühne tanzt.
Ich würde
meinen Schrei Dir ins Gesicht schreien, wenn Du hier wärst. Florence muß
diejenige sein, die diese Momente zu erdulden hat, wenn ein wahrer Feuerstoß
der Furcht aus mir hervorbricht und das Blatt am Zweig versengt. »Alles wird
gut«: dies sind die Worte, die ich hören möchte. Ich möchte an jemandes Busen
gedrückt werden, an Florences, an Deinen, irgend jemandes Busen, und möchte
gesagt bekommen, daß alles gut werden wird.
Als ich im Bett lag letzte
Nacht, unter der Hüfte ein Kissen, die Arme an die Brust gepreßt, damit der
Schmerz sich nicht bewege – die Uhr zeigte 3:45 an –, dachte ich mit Neid und
Sehnsucht an Florence in ihrem Zimmer, wo sie schlief, umgeben von ihren
schlafenden Kindern, und wie sie atmeten, die vier, in ihren vier verschiedenen
Rhythmen, aus und ein, stark und sauber.
Einst hatte ich alles,
dachte ich. Jetzt habt ihr alles, und ich habe nichts.
Das Atmen
der vier ging weiter, ohne Stocken, und das leise Ticken der Uhr.
Ich faltete ein Blatt
Papier und schrieb Florence eine Mitteilung: »Ich habe eine schlechte Nacht.
Will versuchen, morgen lange zu schlafen. Halte die Kinder bitte ruhig. Danke.
E. C.« Ich ging nach unten und stellte sie in die Mitte des Küchentischs. Dann,
zitternd, ging ich wieder ins Bett, nahm die Vier-Uhr-Pillen, schloß die Augen,
verschränkte die Arme und wartete auf den Schlaf, der nicht kam.
Was ich von
Florence will, kann ich nicht bekommen. Nichts von dem, was ich will, kann ich
bekommen.
Voriges Jahr, als das Baby
noch getragen werden mußte, habe ich Florence einmal nach Brackenfell gefahren,
zur Arbeitsstelle ihres Mannes.
Zweifellos erwartete
sie, ich würde sie dort absetzen und wegfahren. Aber aus Neugier, weil ich den
Mann sehen wollte, sie zusammen sehen wollte, bin ich mit ihr hineingegangen.
Es war an
einem späten Samstagnachmittag. Vom Parkplatz aus folgten wir einem staubigen Weg
vorbei an zwei langen, niedrigen Hallen zu einer dritten Halle, wo ein Mann in
blauem Overall in einem Drahtgehege stand, umwimmelt von Hühnern – eigentlich
Hühnchen – zu seinen Füßen. Das Mädchen, Hope, riß sich los, rannte vor und
faßte in den Maschendraht. Zwischen dem Mann und Florence sprang etwas über:
ein Blick, eine Frage, ein Wiedererkennen.
Aber es war
keine Zeit für Begrüßungen. Er, William, Florences Mann, hatte einen Job, und
der Job konnte nicht unterbrochen werden. Sein Job bestand darin, sich ein Huhn
zu schnappen, es herumzuschwingen, um sich das zappelnde Tier, mit dem Kopf
nach unten, zwischen die Knie zu klemmen, ihm einen Drahtring um die Füße zu
drehen und es einem zweiten, jüngeren Mann weiterzureichen, der es, schreiend
und flatternd, an einen Haken an einem Förderband hängte, das klappernd über
seinem Kopf lief und es tiefer in die Halle brachte, wo ein dritter Mann in
blutbespritzter Ölhaut seinen Kopf packte, den Hals straffzog und ihn mit einem
Messer durchschnitt, das so klein war, daß es zu seiner Hand zu gehören schien,
worauf er den Kopf, in derselben Bewegung, in einen Plastikkübel zu anderen
toten Köpfen warf.
Das war Williams Arbeit,
und das sah ich, bevor ich die Zeit oder Geistesgegenwart hatte zu fragen, ob
ich es sehen wollte. Sechs Tage die Woche war dies seine Tätigkeit. Er band den
Hühnern die Beine. Oder vielleicht wechselte er sich auch ab mit den anderen
Männern und hängte Hühner an Haken oder schnitt Köpfe ab. Für vierhundert Rand
den Monat plus Zuteilungen. Eine Arbeit, die er seit fünfzehn Jahren machte. So
daß es nicht unvorstellbar war, daß einige der Tiere, die ich mit Brotkrumen
und Eigelb und Salbei gefüllt und mit Öl und Knoblauch eingerieben hatte, in
ihrer letzten Minute von den Beinen dieses Mannes festgehalten worden waren,
vom Vater der Kinder Florences. Der um fünf, wenn ich noch schlief, aufstand,
um die Bleche unter den Käfigen mit einem Schlauch auszuspritzen, die
Futterrinnen zu füllen, die Hallen auszufegen und dann, nach dem Frühstück, das
Schlachten zu beginnen, das Rupfen und Ausnehmen, das Einfrieren von Tausenden
von Karkassen, das Verpacken von Tausenden von Köpfen und Füßen, Meilen von
Innereien, Bergen von Federn.
Ich hätte sofort
verschwinden sollen, als ich sah, was da vorging.
Weitere Kostenlose Bücher