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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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hinauf. Das Lächeln gefror. »Wissen
Sie überhaupt, was Sie tun?« kreischte ich, und meine Stimme begann zu
brechen. Erschreckt sah er herab. Erschreckt, daß eine weiße Frau ihn anschrie,
noch dazu eine, die alt genug war, um seine Großmutter zu sein.
    Ein Mann im Kampfanzug kam
von dem nächsten Fahrzeug in der Reihe heran. Gleichmütig betrachtete er mich: »Wat
is die moeilikheid?« fragt er den Jungen in dem Mannschaftswagen. »Nee,
niks moeilikheid nie.« Nein, kein Problem. »Net hier die dame wat wil weet
wat aangaan.«
    »Es ist
gefährlich, sich in dieser Gegend aufzuhalten, Lady«, sagte er, mir sich
zuwendend. Ein Offizier offenbar. »Hier kann alles mögliche passieren. Ich werd
Ihnen einen Begleitschutz kommen lassen, der Sie zur Straße zurückbringt.«
    Ich
schüttelte den Kopf. Ich hatte mich völlig in der Hand, war nicht einmal
verweint, obwohl ich es nicht für ausgeschlossen hielt, jeden Moment
zusammenzubrechen.
    Was wollte ich? Was wollte
die alte Dame? Was sie wollte, war, ihnen etwas zu entblößen, was immer es war,
was zu dieser Zeit, an diesem Ort entblößt werden konnte. Was sie wollte, bevor
sie sie loswurden, war, eine Narbe vorzuweisen, eine Verletzung, sie ihnen
aufzudrängen, damit sie sie sahen, mit eigenen Augen: eine Narbe, irgendeine
Narbe, die Narbe von all diesem Leid, schließlich aber meine Narbe, denn unsere
eigenen Narben sind die einzigen, die wir davontragen können. Ich hob sogar
eine Hand an die Knöpfe meines Kleides. Aber meine Finger waren steif,
blaugefroren.
    »Haben Sie einen Blick in die
Halle da geworfen?« fragte ich mit meiner brüchigen Stimme. Jetzt kamen die
Tränen.
    Der
Offizier ließ seine Zigarette fallen und trat sie mahlend in den Sand.
    »Diese
Einheit hat in den letzten vierundzwanzig Stunden keinen Schuß abgegeben«,
sagte er leise. »Ich möchte Ihnen raten: Regen Sie sich nicht auf, bevor Sie
nicht wissen, wovon Sie reden. Die Menschen da drin sind nicht die einzigen,
die gestorben sind. Es gibt hier dauernd Tote. Die da sind nur die, die sie von
gestern aufgelesen haben. Die Kämpfe haben jetzt mal nachgelassen, aber sowie
der Regen aufhört, flammen sie wieder auf. Ich weiß nicht, wie Sie
hierhergekommen sind – die Straße hätte gesperrt sein müssen –, aber es ist
eine schlimme Gegend hier, Sie sollten nicht hier sein. Wir werden über Funk
die Polizei holen, die kann Sie dann hinausbegleiten.«
    »Ek het
reeds geskakel«, sagte der Junge im
Mannschaftswagen.
    »Warum legt
ihr nicht einfach die Waffen nieder und geht nach Hause, alle miteinander?«
sagte ich. »Es kann doch nichts schlimmer sein als das, was ihr hier macht.
Schlimmer für eure Seelen, mein ich.«
    »Nein«, sagte er. Ich hatte
Begriffsstutzigkeit erwartet, doch nein, er verstand genau, was ich meinte.
»Wir werden das jetzt durchstehn.«
    Ich schlotterte am ganzen
Körper. Meine Finger, in die Handflächen gekrümmt, ließen sich nicht strecken.
Der Wind drückte die durchnäßte Kleidung an meine Haut.
    »Ich hab
einen von diesen toten Jungen gekannt«, sagte ich. »Ich kannte ihn, seit er
fünf war. Seine Mutter arbeitet für mich. Ihr seid alle zu jung für das hier.
Es macht mich krank. Das ist alles.«
    Ich fuhr
zurück zu der Halle und wartete im Wagen. Sie brachten die Leichen jetzt
heraus. Ich fühlte aus der anwachsenden Menge eine Woge auf mich zukommen: eine
Woge des Grolls, der Feindseligkeit – schlimmer: des Hasses. Wäre es anders
gewesen, wenn ich mit den Soldaten nicht gesprochen hätte? Nein.
    Mr. Thabane
kam heran, um zu sehen, was ich wollte. »Tut mir leid, aber ich bin nicht
sicher, ob ich den Rückweg finde«, sagte ich.
    »Fahren Sie
weiter bis zur Asphaltstraße, dann rechts abbiegen und den Schildern folgen«,
sagte er barsch.
    »Ja, aber
welchen Schildern?«
    »Den Schildern zur
Zivilisation.« Und er machte auf dem Absatz kehrt.
    Ich fuhr
langsam, teils weil der Wind mir ins Gesicht schlug, teils weil ich körperlich
und seelisch benommen war. Ich geriet in einen Vorort, von dem ich nie etwas
gehört hatte, und irrte zwanzig Minuten durch ununterscheidbare Straßen auf der
Suche nach einer Ausfahrt. Schließlich befand ich mich auf der Voortrekker
Road. Hier, zum erstenmal, fingen die Leute an, den Wagen mit der
zerschmetterten Windschutzscheibe anzustarren. Den ganzen Weg nach Hause
folgten mir Blicke.
    Das Haus mutete kalt an und
fremd. Ich sagte mir: Nimm ein heißes Bad, ruh dich aus. Aber eine eisige
Lethargie lähmte mich. Es

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