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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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der Straße: drei khakifarbene Mannschaftswagen, fast mit
den Bäumen verschmelzend, und, vor dem Himmel sich abzeichnend, behelmte Köpfe.
    »Falls Sie gedacht haben«,
schloß er, »dies sei nur ein Streit unter Schwarzen gewesen, ein bißchen
Parteiengerangel – aber schaun Sie: da ist meine Schwester.«
    Meine Schwester nannte er sie, nicht Florence. Vielleicht war
ich der einzige Mensch auf der Welt, der sie Florence nannte. Sie nach einem
angenommenen Namen nannte. Jetzt befand ich mich auf einem Boden, wo die Menschen
sich unter ihrem wahren Namen zu erkennen gaben.
    Sie stand mit dem Rücken
zur Wand, vor dem Regen sich schützend: eine nüchterne, achtbare Frau in
weinrotem Mantel und mit weißer Wollmütze. Wir schlängelten uns zu ihr durch.
Obwohl sie kein Zeichen gab, war ich sicher, daß sie mich sah. »Florence!« rief
ich. Stumpf blickte sie auf. »Hast du ihn gefunden?«
    Sie deutete mit dem Kopf
auf das ausgebrannte Innere und wandte sich dann ab, ohne mich zu grüßen. Mr.
Thabane begann, sich an dem Gedränge vor dem Eingang vorbeizuschieben. Verlegen
wartete ich. Menschen trieben vorbei, einen Bogen um mich machend, als brächte
ich Unglück.
    Ein Mädchen
in einem apfelgrünen Schulkittel trat auf mich zu, die Hand wie zum Schlag
erhoben. Ich wich zurück, aber es war nur Spiel gewesen. Oder vielleicht sollte
ich sagen: Sie beherrschte sich und schlug nicht wirklich zu.
    »Ich finde,
Sie sollten sich das auch ansehn«, sagte Mr. Thabane, als er, heftig atmend,
wieder auftauchte. Er ging zu Florence und nahm sie in die Arme. Ihre Brille
hochschiebend, legte sie den Kopf an seine Schulter und brach in Tränen aus.
    Das Innere der Halle war
ein Gewirr von Schutt und verkohlten Balken. An der hinteren Wand, geschützt
vor dem schlimmsten Regen, lagen fünf Körper ordentlich aufgereiht. Der Körper
in der Mitte war der von Florences Bheki. Er trug noch die graue Flanellhose,
das weiße Hemd und den kastanienbraunen Pullover seiner Schule, aber seine Füße
waren nackt. Seine Augen waren offen und starr, auch sein Mund war offen. Der
Regen war seit Stunden auf ihn niedergeschlagen, auf ihn und auf seine
Kameraden, nicht nur hier, sondern wo immer sie gewesen waren, als sie ihrem
Tod begegneten; ihre Kleidung, sogar ihr Haar hatte ein hingestrecktes, totes
Aussehen. In seinen Augenwinkeln waren Sandkörner. Sand war in seinem Mund.
    Jemand
zupfte mich am Arm. Benommen blickte ich hinab auf ein kleines Mädchen mit
großen, feierlichen Augen. »Schwester«, sagte sie, »Schwester…«, wußte dann
aber nicht weiter.
    »Sie fragt,
sind Sie eine von den Schwestern?« erklärte eine Frau, gutmütig lächelnd.
    Ich wollte
mich nicht wegziehen lassen, nicht jetzt. Ich schüttelte den Kopf.
    »Sie meint,
sind Sie eine von den Schwestern aus der katholischen Kirche«, sagte die Frau.
»Nein«, fuhr sie fort, englisch zu dem Kind sprechend, »sie ist keine von den
Schwestern.« Sanft löste sie die Finger des Kindes von meinem Ärmel.
    Um Florence
drängelten sich Menschen.
    »Müssen sie
da im Regen liegen?« fragte ich Mr. Thabane.
    »Ja, sie müssen da liegen.
Damit jeder sie sehen kann.«
    »Aber wer
hat es getan?«
    Ich zitterte: Schauder
durchliefen mich, meine Hände bebten. Ich dachte an die offenen Augen des
Jungen. Ich dachte: Was hat er als letztes auf der Erde gesehen? Ich dachte:
Das ist das Schlimmste, was ich im Leben gesehen habe. Und ich dachte: Jetzt
sind meine Augen offen, und ich kann sie nie wieder schließen.
    »Wer es getan hat?« sagte
Mr. Thabane. »Wenn Sie die Kugeln aus ihren Körpern herausholen wollen, bitte
sehr! Aber ich sag Ihnen jetzt schon, was Sie finden werden. ›Made in South
Africa. sabs Approved.‹ * Das werden Sie finden.«
    »Bitte,
hören Sie mir zu«, sagte ich. »Mir ist das nicht gleichgültig… dieser Krieg.
Wie könnte er? Keine Gitterstäbe sind stark genug, um ihn draußen zu halten.«
Mir war zum Heulen; aber hier, neben Florence, welches Recht hatte ich dazu?
»Er lebt in mir, und ich lebe in ihm«, flüsterte ich.
    Mr. Thabane
zuckte ungeduldig mit den Schultern. Er war häßlich geworden. Zweifellos werde
auch ich tageweise häßlich. Metamorphose, die unser Sprechen eindickt, unser
Fühlen abstumpft, uns vertiert. Wo an diesen Gestaden wächst das Kraut, das uns
davor bewahrt?
    Ich erzähle
Dir die Geschichte dieses Morgens, mir dessen bewußt, daß die Erzählerin, kraft
ihres Amtes, den Anspruch erhebt, auf dem Boden des Rechtes zu stehen. Es

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