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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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sind
meine Augen, durch die Du siehst; die Stimme, die in Deinem Kopf spricht, ist
meine. Durch mich allein befindest Du Dich auf diesen trostlosen Ebenen,
riechst Du den Rauch in der Luft, siehst Du die Körper der Toten, hörst Du das
Weinen, zitterst Du im Regen. Es sind meine Gedanken, die Du denkst, es ist
meine Verzweiflung, die Du fühlst, wie auch die ersten Regungen des
Willkommenheißens dessen, was immer dem Denken ein Ende macht: Schlaf, Tod. Zu
mir fließt Dein Mitgefühl; Dein Herz schlägt mit meinem.
    Und nun,
mein Kind, Fleisch von meinem Fleisch, mein bestes Selbst, bitte ich Dich, Dich
zurückzunehmen. Ich erzähle Dir diese Geschichte nicht, damit Du für mich
fühlst, sondern damit Du lernst, wie die Dinge sind. Ich weiß, es wäre leichter
für Dich, wenn die Geschichte von jemand anderm käme, wenn es die Stimme eines
Fremden wäre, die in Deinem Ohr klingt. Aber es gibt nun mal keinen anderen.
Ich bin der einzige. Ich bin derjenige, der schreibt: ich, ich. Ich bitte Dich
also, halte Dich an das Geschriebene, nicht an mich. Wenn Lügen und Bitten und
Entschuldigungen sich in die Worte schleichen, so hör sie heraus. Übergeh sie
nicht, vergib sie nicht leicht. Lies alles, auch diese Beschwörung, mit kaltem
Auge.
    Jemand hatte einen Stein
durch die Windschutzscheibe geworfen. Groß wie der Kopf eines Kindes, stumm,
lag er zwischen Glassplittern auf dem Sitz, so als gehörte der Wagen jetzt ihm.
Mein erster Gedanke war: Wo kriege ich eine Windschutzscheibe für einen Hillman
her? Und dann: Wie gut, daß alles zur selben Zeit zu einem Ende kommt!
    Ich schob
den Stein vom Sitz und begann, die losen Scherben aus der Scheibe zu klauben.
Nun, da ich etwas zu tun hatte, fühlte ich mich ruhiger. Ich war aber auch
ruhiger, weil es mich nicht mehr kümmerte, ob ich lebte. Es spielte keine Rolle
mehr, was mir zustoßen konnte. Ich dachte: Mein Leben kann ebenso auch Müll
sein. Wir schießen auf diese Menschen, als wären sie Müll, aber am Ende sind
wir es, die es nicht wert sind zu leben.
    Ich dachte an die fünf
toten Körper, an ihre massive, solide Präsenz in der ausgebrannten Halle. Ihre
Geister haben sie nicht verlassen, dachte ich, und werden sie nicht verlassen.
Ihre Geister sitzen fest, besitzend.
    Wenn in dem
Moment dort jemand ein Grab für mich im Sand ausgehoben und hingezeigt hätte,
so wäre ich ohne ein Wort hineingestiegen, hätte mich hingelegt und die Hände
auf der Brust gefaltet. Und wäre der Sand mir in den Mund und in die
Augenwinkel gefallen, so hätte ich keinen Finger gekrümmt, um ihn wegzuwischen.
    Lies ohne Mitgefühl mit
mir. Laß Dein Herz nicht mit meinem schlagen.
    Ich hielt eine Münze durch
das Fenster hinaus. Viele Hände wollten sie haben. Die Kinder schoben, der
Motor sprang an. In ausgestreckte Hände leerte ich meine Geldbörse.
    Zwischen
Büschen, wo die Straße in einen Feldweg überging, standen die Militärfahrzeuge,
die ich gesehen hatte, in Bereitschaft, nicht drei, wie ich gedacht hatte,
sondern fünf. Unter dem Blick eines Jungen in olivgrünem Regencape stieg ich
aus dem Wagen, frierend in meinen nassen Sachen, als wäre ich nackt.
    Ich hatte gehofft, die
Worte, die ich brauchte, würden einfach kommen, aber sie kamen nicht. Ich hielt
die Hände hin, die Handflächen nach oben. Ich bin beraubt, sagten meine Hände,
der Sprache beraubt. Ich bin gekommen, um zu sprechen, habe aber nichts zu
sagen.
    »Wag in
die Motor, ek sal die polisie skaken«, rief
er zu mir herab. Ein pickliger Junge, der dieses wichtigtuerische, mörderische
Spiel spielte. Warten Sie im Wagen, ich ruf die Polizei. Ich schüttelte den
Kopf und schüttelte weiter den Kopf. Er sprach zu jemandem neben ihm, jemandem,
den ich nicht sehen konnte. Er lächelte. Zweifellos hatten sie mich schon eine
ganze Weile beobachtet, hatten ihre eigene Meinung über mich. Eine wahnsinnige
alte Wohltäterin, überrascht vom Regen, verdreckt wie eine Henne. Hatten sie
recht? Bin ich eine Wohltäterin? Nein, soweit ich weiß, habe ich keine
Wohltaten vollbracht. Bin ich wahnsinnig? Ja, ich bin wahnsinnig. Aber sie sind
auch wahnsinnig. Alle sind wir wahnsinnig, rasend, von Teufeln besessen. Wenn
Wahnsinn den Thron besteigt, wer im Lande entgeht da der Ansteckung?
    »Rufen Sie die Polizei
nicht, ich kann selber auf mich aufpassen«, rief ich. Aber das Gemurmel, die
Seitenblicke gingen weiter. Vielleicht hatten sie bereits Funkverbindung.
    »Wissen Sie
überhaupt, was Sie tun?« rief ich zu dem Jungen

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