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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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mich an Deinen letzten Anruf. »Wie fühlst du dich?« fragtest Du.
»Müde, sonst aber gut«, hatte ich geantwortet. »Ich gehe die Dinge langsam an.
Florence, wie immer, ist ein starker Stützpfeiler, und ich habe einen neuen
Mann, der im Garten hilft.«
    »Da bin ich
aber froh«, sagtest Du mit Deiner munteren amerikanischen Stimme – »du mußt
dich oft ausruhn und dich darauf konzentrieren, wieder zu Kräften zu kommen.«
    Mutter und
Tochter am Telefon. Dort Mittag, hier Abend. Dort Sommer, hier Winter. Doch die
Verbindung ist so deutlich, als wärest Du nebenan. Unsere Worte
auseinandergenommen, durch die Sphären geschleudert, wieder zusammengesetzt,
heil und ganz, makellos. Nicht mehr das alte Unterseekabel, das Dich mit mir
verbindet, sondern eine effiziente, abstrakte Schaltung über das Firmament: die
Idee von Dir, zusammengeschaltet mit der Idee von mir; nicht Worte, nicht
lebendiger Atem, der zwischen uns hin und her geht, sondern es sind die Ideen
von Worten, die Idee des Atems, codiert, übermittelt, decodiert. Zum Schluß
sagtest Du, »Gute Nacht, Mutter«, und ich, »Mach’s gut, mein Liebes, danke für
den Anruf«, wobei ich in das Wort Liebes das ganze Gewicht meiner Liebe
legte (wie zügellos!) und betete, daß die Spur dieser Liebe die kalten Bahnen
des Raumes überlebe und bei Dir ankomme.
    Am Telefon,
Liebe, aber nicht Wahrheit. In diesem Brief auf anderem Weg (ein so langer
Brief!) Wahrheit und Liebe endlich zusammen. In jedem Du, das ich
hinschreibe, flackert und zittert Liebe wie Elmsfeuer; Du bist bei mir, nicht
wie Du heute in Amerika bist, nicht wie Du warst, als Du weggingst, sondern wie
Du in einer tieferen und unveränderlicheren Form bist: als die Geliebte, als
das, was nicht stirbt. Es ist die Seele von Dir, die ich anspreche, so wie es
die Seele von mir ist, die bei Dir bleiben wird, wenn dieser Brief aus ist. Wie
eine aus ihrer Hülle hervorbrechende Motte, die ihre Flügel spreizt: das ist
es, was Du, wie ich hoffe, flüchtig zu sehen bekommst beim Lesen: meine Seele,
die sich bereitmacht für weiteren Flug. Eine weiße Motte, ein Geisthauch, der
dem Mund der Gestalt auf dem Totenbett entsteigt. Dieses Kämpfen mit der
Krankheit, der Trübsinn und Selbstekel dieser Tage, die Unschlüssigkeit, auch
das Abschweifen (es gibt nicht mehr viel zu sagen über die Hout-Bay-Episode –
Vercueil kam betrunken und übellaunig zurück, fand den Schlüssel, fuhr mich
nach Hause, und das war’s; vielleicht, wüßte man die Wahrheit, hat sein Hund
ihn zurückgeführt) – all das Teil der Metamorphose, Teil meines Abschütteins
der sterbenden Hülle.
    Und danach,
nach dem Sterben? Keine Angst, ich werde Dich nicht heimsuchen. Es wird nicht
nötig sein, die Fenster zu verschließen und den Schornstein dichtzumachen,
damit die weiße Motte nicht in der Nacht hereinflattert und sich auf Deiner
Stirn oder der Stirn eines der Kinder niederläßt. Die Motte ist einfach das,
was ganz sacht Deine Wange streifen wird, wenn Du die letzte Seite dieses
Briefes hinlegst, bevor es zu seiner nächsten Reise davonflattert. Es ist nicht
meine Seele, die bei Dir bleibt, sondern der Geist meiner Seele, der Atem, der
Lufthauch um diese Worte, eine ganz schwache Turbulenz, in die Luft gezogen
durch die geisterhafte Fährte meiner Feder auf dem Papier, das Deine Finger
jetzt halten.
    Mich
loslassen, Dich loslassen, ein Haus loslassen, in dem noch Erinnerungen
lebendig sind: eine schwere Aufgabe, aber ich lerne. Auch die Musik. Aber die
Musik werde ich mitnehmen, wenigstens die, denn sie ist verwoben mit meiner
Seele. Die Ariosi aus der Matthäus-Passion, tausendmal verwoben und verknüpft,
so daß niemand, nichts sie wieder lösen kann.
    Wenn
Vercueil diese Seiten nicht abschickt, wirst Du sie nie lesen. Du wirst nicht
einmal wissen, daß sie existierten. Ein bestimmtes Stück Wahrheit wird nie
Gestalt annehmen: meine Wahrheit: wie ich lebte in diesen Zeiten, an diesem
Ort.
    Worauf
setze ich also, wenn ich um Vercueil wette, auf ihn setze?
    Es ist eine
Wette auf Vertrauen. So wenig verlangt, ein Päckchen zum Postamt zu bringen und
am Schalter abzugeben. So wenig, daß es fast nichts ist. Zwischen dem
Hinbringen des Päckchens und dem Nichthinbringen wiegt der Unterschied nicht
mehr als eine Feder. Wenn nach meinem Weggang noch ein Hauch von Vertrauen,
Gefälligkeit, Achtung übrigbleibt, wird er es bestimmt hinbringen.
    Und wenn nicht?
    Wenn nicht,
dann gibt es kein Vertrauen, und wir verdienen es nicht besser,

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