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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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war
dasselbe, als dieser Freund von ihm auf der Straße blutete. Da war dieselbe
Schwere. Schweres Blut. Ich wollte es daran hindern, in die Gosse zu fließen.
So viel Blut! Wenn ich alles aufgefangen hätte, so hätte ich den Eimer nicht
anheben können. So als wollte man einen Eimer Blei anheben.
    Ich hatte vorher noch keine
schwarzen Menschen im Tode gesehen, Mr. Vercueil. Sie sterben die ganze Zeit,
ich weiß, aber immer woanders. Die Menschen, die ich sterben sah, sind weiß
gewesen und sind im Bett gestorben, und da sind sie eher trocken und leicht
geworden, eher papieren, eher luftig. Sie haben gut gebrannt, da bin ich
sicher, und danach war nur ein Minimum an Asche zusammenzukehren. Wollen Sie
wissen, warum ich mich entschloß, mich zu verbrennen? Weil ich dachte, ich
würde gut brennen.
    Wohingegen
diese Menschen nicht brennen werden, Bheki und die andern Toten. Es wäre, als
wollte man Figuren aus Roheisen oder Blei verbrennen. Sie könnten die Schärfe
ihrer Kontur verlieren, doch wenn die Flammen zusammengesunken wären, würden
sie noch immer dasein, schwer wie immer. Man lasse sie lange genug liegen, und
sie sinken vielleicht, Millimeter um Millimeter, bis die Erde sich über ihnen
schließt. Aber dann würden sie nicht weitersinken. Sie würden dort bleiben,
dicht unter der Oberfläche hüpfend wie unter Wellen. Wenn man auch nur mit dem
Fuß darüberschlurfte, würde man sie aufdecken: die Gesichter, die toten Augen,
offen, voller Sand.«
    »Trinken
Sie«, sagte Vercueil, die Flasche mir hinhaltend. Sein Gesicht veränderte sich,
die Lippen wurden voller, übersättigt, naß, die Augen unklar. Wie bei der Frau,
die er mitgebracht hatte. Ich nahm die Flasche und wischte sie an meinem Ärmel
ab.
    »Sie müssen
verstehn, es ist nicht bloß eine persönliche Sache, dieses Aufgewühltsein, von
dem ich Ihnen erzähle«, machte ich weiter. »Eigentlich ist es überhaupt nichts
Persönliches. Ich habe Bheki wohl sehr gern gehabt, als er noch ein Kind war,
aber wie er dann geworden ist, hat mich gar nicht gefreut. Ich hatte mir etwas
anderes erhofft. Er und seine Kameraden sagen, sie hätten die Kindheit hinter
sich.
    Nun ja, sie
haben vielleicht aufgehört, Kinder zu sein, aber was sind sie geworden?
Finstere kleine Puritaner, die das Lachen verachten, das Spielen verachten.
    Warum sollte ich also um
ihn trauern? Die Antwort ist, ich sah sein Gesicht. Als er starb, war er wieder
ein Kind. Die Maske muß vor lauter kindlichem Überraschtsein gefallen sein, als
ihm in jenem letzten Moment aufging, daß das Steinewerfen und Schießen
schließlich doch kein Spiel war; daß der Riese, der da mit einer Pranke voll
Sand auf ihn zugeschoben kam, um ihm den Mund zu stopfen, mit Sprechchören oder
Schlagworten nicht abgewendet werden würde; daß am Ende des langen Durchganges,
wo er verstummte und erstickte und nicht mehr atmen konnte, kein Licht war.
    Jetzt ist
dieses Kind begraben, und wir gehen auf ihm. Lassen Sie mich Ihnen sagen, wenn
ich auf diesem Land gehe, diesem Südafrika, habe ich zunehmend das Gefühl, auf
schwarzen Gesichtern zu gehen. Sie sind tot, aber ihr Geist hat sie nicht
verlassen. Schwer und halsstarrig liegen sie da und warten darauf, daß meine
Füße vorbeikommen, warten darauf, daß ich gehe, warten darauf, wieder
auferweckt zu werden. Millionen von Figuren aus Roheisen, die unter der Haut
der Erde dahintreiben. Die Eisenzeit, ihrer Wiederkehr harrend.
    Sie denken,
ich bin durcheinandergebracht, werde aber darüber hinwegkommen. Billige Tränen,
denken Sie, sentimentale Tränen, bald versiegt. Ja, es ist war, ich bin schon öfter
durcheinandergebracht gewesen, ich habe mir eingebildet, Schlimmeres könne es
nicht geben, und dann ist das Schlimmere doch eingetroffen, wie es das
unfehlbar tut, und ich bin darüber hinweggekommen, oder es schien wenigstens
so. Aber da liegt die Schwierigkeit! Um nicht vor Scham gelähmt zu sein, um
weiterzuleben, blieb mir gar nichts anderes übrig, als über das Schlimmere
hinwegzukommen. Worüber ich nun aber nicht mehr hinwegkommen kann, das ist
dieses Darüberhinwegkommen. Wenn ich diesmal darüber hinwegkomme, werde
ich nie mehr die Chance haben, nicht darüber hinwegzukommen. Meiner
eigenen Wiederauferstehung zuliebe kann ich diesmal nicht darüber
hinwegkommen.«
    Vercueil hielt mir die
Flasche hin. Ganze vier Zoll waren weg. Ich drückte seine Hand beiseite. »Ich
will nichts mehr trinken«, sagte ich.
    »Na los«,
sagte er, »betrinken Sie sich zur

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