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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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Häuser für sie und ihre Nachkommen
auf ewig zu errichten seien, wobei sie nichts voraussahen von dem Tag, an dem,
in deren Schatten, die Kinder heimkehren würden, um auf sie zurückzufallen.
    Es war ein
Nebel in meinem Kopf, ein graues Gewaber. Ich zitterte; krampfhaftes Gähnen
überkam mich. Eine Weile war ich nirgendwo.
    Dann schnupperte etwas an
meinem Gesicht: ein Hund. Ich versuchte, ihn abzuwehren, aber er fand einen Weg
an meinen Fingern vorbei. Ich gab also nach und dachte, es gibt Schlimmeres als
die feuchte Nase eines Hundes, seinen gierigen Atem. Ich ließ ihn mein Gesicht
lecken, meine Lippen lecken, das Salz meiner Tränen auflecken. Küsse, wenn man
sie so sehen wollte.
    Jemand war
bei dem Hund. Kannte ich den Geruch? War es Vercueil, oder rochen alle
Stadtstreicher nach vermoderndem Laub, nach im Aschenhaufen verrottender
Unterwäsche? »Mr. Vercueil?« krächzte ich, und der Hund winselte vor Erregung
und nieste mir mächtig mitten ins Gesicht.
    Ein
Streichholz flammte auf. Ja, es war Vercueil, mit Hut und allem. »Wer hat Sie
denn in diese Lage gebracht?« fragte er. »Ich selber«, sagte ich, an der rohen
Stelle in meinem Mund vorbei. Das Streichholz erstarb. Wieder kamen Tränen, die
der Hund gierig verzehrte.
    Bei seinen hohen
Schulterblättern und seiner Brust, schmal wie die einer Möwe, hätte ich
Vercueil nicht so viel Kraft zugetraut. Aber er hob mich auf, mitsamt dem
nassen Fleck und allem, und trug mich. Ich dachte: vierzig Jahre ist es her,
seit ich zuletzt von einem Mann getragen wurde. Das Mißgeschick einer großen
Frau. Wird so die Geschichte enden: Von starken Mannesarmen über den Sand
getragen werden, durch seichte Wellen, dann durch die Brecher hindurch und
hinein in die dunkleren Tiefen?
    Wir waren weg von der
Überführung, in gesegneter Stille. Wie viel erträglicher plötzlich alles wurde!
Wo war der Schmerz? War der Schmerz jetzt besser gelaunt? »Gehn Sie nicht
zurück zur Schoonder Street!« befahl ich.
    Wir gingen an einer
Straßenlaterne vorbei. Ich sah die Anspannung in den Muskeln seines Halses, hörte
sein schnelles Atmen. »Setzen Sie mich mal ein Weilchen ab«, sagte ich. Er
setzte mich ab und ruhte sich aus. Wann würde die Zeit kommen, wo die Jacke von
ihm abfiele und große Flügel aus seinen Schultern sprössen?
    Die Buitenkant Street trug
er mich hinauf, über die Vrede Street, die Straße des Friedens, und, langsamer
auftretend, vor jedem Schritt mit den Füßen tastend, in einen dunklen,
baumbestandenen Freiraum. Durch Äste erblickte ich die Sterne.
    Er setzte
mich ab.
    »Ich bin so froh, Sie zu
sehn«, sagte ich, und die Worte kamen mir aus tiefstem Herzen. Und dann: »Ich
bin von ein paar Kindern angegriffen worden, bevor Sie kamen. Angegriffen oder
geschändet oder durchsucht, ich weiß nicht, was. Deswegen spreche ich so
seltsam. Sie haben mir einen Stock in den Mund gestoßen, ich verstehe noch
immer nicht, warum. Welches Vergnügen können sie daran gefunden haben?«
    »Die wollten Ihre
Goldzähne«, sagte er. »Sie kriegen Geld für Gold von den Pfandleihern.«
    »Goldzähne? Wie seltsam.
Ich habe keine Goldzähne. Ich hatte mein Gebiß sowieso rausgenommen. Hier ist
es.«
    Von
irgendwoher in der Dunkelheit holte er Pappe, einen zusammengefalteten Karton.
Er klappte ihn auseinander und half mir beim Hinlegen. Dann, ohne Eile,
zwanglos, legte auch er sich hin, mit dem Rücken zu mir. Der Hund lagerte sich
zwischen unsere Beine.
    »Wollen Sie was von der
Decke?« sagte ich.
    »Ich bin
okay.«
    Zeit verging.
    »Tut mir
leid, aber ich habe schrecklichen Durst«, flüsterte ich. »Gibt’s hier kein
Wasser?«
    Er stand auf und kam mit
einer Flasche zurück. Ich roch es: Süßwein, die Flasche halbvoll. »Das ist
alles, was ich habe«, sagte er. Ich trank sie leer. Es half nichts gegen meinen
Durst, aber die Sterne am Himmel fingen an zu schwimmen. Alles rückte in die
Ferne: der Geruch feuchter Erde, die Kälte, der Mann neben mir, mein eigener
Körper.
    Wie ein
Krebs nach einem langen Tag, müde, seine Scheren zusammenlegend, ging sogar der
Schmerz schlafen. Ich schoß wieder hinab in Dunkelheit.
    Als ich erwachte, hatte er
sich umgedreht und einen Arm über meinen Hals geworfen. Ich hätte mich befreien
können, wollte ihn aber nicht stören. Während also gemächlich der neue Tag
anbrach, lag ich reglos mit meinem Gesicht vor seinem Gesicht. Seine Augen
öffneten sich einmal, wachsam, wie die eines Tieres. »Ich bin nicht weg«,
murmelte ich. Die

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