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Coetzee, J. M.

Coetzee, J. M.

Titel: Coetzee, J. M. Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Eiserne Zeit
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Augen schlossen sich.
    Mir kam der Gedanke: Wen
von allen Lebewesen kenne ich am besten zu dieser Stunde? Ihn. Jedes Haar
seines Bartes, jede Falte seiner Stirn ist mir bekannt. Ihn, nicht Dich. Weil
er hier ist, neben mir, jetzt.
    Vergib mir.
Die Zeit ist knapp, ich muß meinem Herzen vertrauen und die Wahrheit sagen.
Blind, unwissend folge ich der Wahrheit, wohin sie mich bringt.
    »Sind Sie wach?« murmelte
ich.
    »Ja.«
    »Diese
Jungen sind jetzt beide tot«, sagte ich. »Sie haben sie beide getötet, wußten
Sie das?«
    »Ich weiß.«
    »Sie
wissen, was im Haus passiert ist?«
    »Ja.«
    »Stört es Sie, wenn ich
rede?«
    »Reden
Sie.«
    »Also, was ich sagen
möchte: An dem Tag, als Bheki starb, hab ich Florences Bruder kennengelernt –
Bruder oder Cousin oder was immer. Ein gebildeter Mann. Ich sagte zu ihm, daß
ich wünschte, Bheki wäre nie in diesen – wie soll ich sagen? – in den Kampf
verwickelt worden. ›Er ist noch ein Kind‹, hab ich gesagt: ›Er ist noch nicht
soweit. Wäre dieser Freund von ihm nicht gewesen, so wär er da nie reingezogen
worden.‹
    Später hab ich ihn nochmal
am Telefon gesprochen. Ich hab ihm offen gesagt, was ich von der Kameradschaft
hielte, für die diese beiden Kinder nun gestorben sind. Eine Mystifizierung des
Todes nannte ich sie. Ich beschuldigte Leute wie Florence und ihn, nichts zu
tun, um die Kinder davon abzubringen.
    Er hat mich
höflich angehört. Meine Meinungen seien mir unbenommen, sagte er. Ich habe
keinen Sinneswandel bewirkt bei ihm.
    Aber jetzt
frage ich mich: Welches Recht habe ich auf Meinungen über Kameradschaft oder
sonstwas? Welches Recht habe ich zu wünschen, Bheki und sein Freund hätten sich
herausgehalten aus den Wirren. Meinungen in einem Vakuum zu haben, Meinungen,
die niemanden berühren, ist, so scheint mir, nichts. Meinungen müssen von
andern gehört werden, gehört und gewogen werden, nicht bloß aus Höflichkeit
angehört werden. Und um gewogen zu werden, müssen sie Gewicht haben. Mr.
Thabane wiegt nicht, was ich sage. Es hat kein Gewicht für ihn. Florence hört
mich nicht einmal mehr. Für Florence ist das, was in meinem Kopf vorgeht, eine
Sache, die ihr völlig gleichgültig ist, ich weiß das.«
    Vercueil
stand auf, ging hinter einen Baum, urinierte. Dann, zu meiner Überraschung, kam
er und legte sich wieder hin. Der Hund schmiegte sich an ihn, die Nase in
seinem Schritt. Mit der Zunge befühlte ich die wunde Stelle in meinem Mund und
schmeckte das Blut.
    »Ich habe
meine Meinung nicht geändert«, sagte ich. »Ich verabscheue diese Aufrufe zur
Opferbereitschaft noch immer. Sie enden nur damit, daß junge Männer im Dreck
verbluten. Krieg ist niemals das, was er vorgibt zu sein. Kratzt man an der
Oberfläche, sieht man jedesmal, daß junge Männer im Namen dieser oder jener
Abstraktion von alten Männern in den Tod geschickt werden. Ungeachtet dessen,
was Mr. Thabane sagt (ich kann’s ihm nicht verübeln, die Zukunft kommt
verkleidet, käme sie nackt, wir würden versteinert sein von dem, was wir
sähen), es bleibt ein Krieg der Alten gegen die Jungen. Freiheit oder Tod! schreien
Bheki und seine Freunde. Wessen Worte? Nicht ihre eigenen. Freiheit oder
Tod! üben diese zwei kleinen Mädchen im Schlaf, da hab ich gar keinen
Zweifel. Nein! möchte ich sagen: Rettet euch!
    Von wem kommt nun die wahre
Stimme der Weisheit, Mr. Vercueil? Von mir, denk ich. Doch wer bin ich, wer
bin ich, um überhaupt eine Stimme zu haben? Wie kann ich sie ehrenhaft dazu
drängen, diesem Aufruf den Rücken zu kehren? Was steht mir anderes zu, als mit
geschlossenem Mund in einer Ecke zu sitzen? Ich habe keine Stimme; ich habe sie
vor langer Zeit verloren; vielleicht hab ich nie eine gehabt. Ich habe keine
Stimme, und damit hat sich’s. Der Rest sollte Schweigen sein. Aber damit – was
immer es ist –, mit dieser Stimme, die keine Stimme ist, mache ich weiter.
Weiter und weiter.«
    Lächelte
Vercueil? Sein Gesicht war verborgen. Zahnlos flüsternd, mit klebrigen
Zischlauten, fuhr ich fort.
    »Ein
Verbrechen wurde begangen, vor langer Zeit. Vor wie langer Zeit? Ich weiß es
nicht. Aber vor 1916, soviel ist sicher. So lange her, daß ich in es
hineingeboren wurde. Es ist ein Teil meines Erbes. Es ist ein Teil von mir, ich
bin ein Teil von ihm.
    Wie jedes
Verbrechen hatte es seinen Preis. Dieser Preis, so dachte ich immer, würde mit
Schande zu zahlen sein: mit einem Leben in Schande und einem schändlichen Tod,
unbeklagt, in einer dunklen Ecke. Ich habe

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