Coetzee, J. M.
städtischen Schattenlandes.
Ein Mann und
eine Frau gingen auf der anderen Straßenseite vorbei. Erkannte ich die Frau
wieder? War es die, die Vercueil mit ins Haus gebracht hatte, oder hatten all
die Frauen, die am Avalon Hotel und an Solly Kramer’s Spirituosenmarkt
herumhingen, diese ausgezehrten, spinnenartigen Beine? Der Mann, der einen
zugeknoteten Plastikbeutel über der Schulter trug, war nicht Vercueil.
Ich hüllte mich fester in
die Steppdecke und legte mich hin. Bis in die Knochen spürte ich das Rollen des
Verkehrs auf der Überführung. Die Pillen waren in dem Haus, dem Haus in anderen
Händen. Konnte ich ohne die Pillen überleben? Ich fing an, den gleichgültigen
Frieden eines Tieres zu fühlen, das, da es seine Zeit nahen fühlt, kalt und
träge in das Loch im Boden kriecht, wo alles sich zu dem langsamen Klopfen
eines Herzens zusammenziehen wird. Hinter einem Betonpfeiler, an einer Stelle,
wo die Sonne seit dreißig Jahren nicht hingeschienen hatte, rollte ich mich auf
meiner guten Seite zusammen und lauschte dem Schlag des Schmerzes, der ebensogut
mein Pulsschlag hätte sein können.
Ich mußte geschlafen haben.
Zeit mußte vergangen sein. Als ich die Augen öffnete, kniete ein Kind neben mir
und tastete innen die Falten der Steppdecke ab. Seine Hand kroch über meinen
Körper. »Da ist nichts für dich«, wollte ich sagen, aber mein Gebiß hatte sich
gelockert. Höchstens zehn Jahre alt, mit geschorenem Schädel und barfüßig und
mit hartem Blick. Hinter ihm zwei Gefährten, noch jünger. Ich nahm das Gebiß
heraus. »Laßt mich allein«, sagte ich: »Ich bin krank, ihr werdet krank werden
von mir.«
Langsam
zogen sie sich zurück und standen dann abwartend da, wie Krähen.
Ich mußte
meine Blase entleeren. Nachgebend urinierte ich, wo ich lag. Dank sei Gott für
die Kälte, dachte ich, Dank sei Gott für die Benommenheit: alles wirkt zusammen
für eine leichte Geburt.
Die Jungen
kamen wieder näher. Ich erwartete ihre zudringlichen Hände, gleichmütig. Das
Rauschen der Reifen lullte mich ein; wie eine Larve in einem Bienenstock
versank ich im Summen der sich drehenden Welt. Die Luft dicht von Lärm.
Tausende von Flügeln, aus und ein fliegend, ohne einander zu berühren. War da
Platz für sie alle? Wie ist da Platz im Himmel für die Seelen all der Toten?
Weil, sagt Marcus Aurelius, sie miteinander verschmelzen: sie verbrennen und verschmelzen
und werden so dem großen Kreislauf zurückgegeben.
Tod nach dem Tod.
Bienenasche.
Die Steppdecke wurde mir
vom Gesicht gezogen. Ich fühlte Licht auf meinen Augenlidern, auch Kälte auf
meinen Wangen, wo die Tränen gelaufen waren. Etwas drückte sich zwischen meine
Lippen, wurde mir zwischen das Zahnfleisch gezwängt. Ich würgte und drehte mich
weg. Alle drei Kinder waren jetzt in dem düsteren Licht dicht über mich
gebeugt; es können auch noch andere dagewesen sein, hinter ihnen. Was taten
sie? Ich versuchte, die Hand wegzuschieben, aber sie drückte nur um so stärker.
Ein häßlicher Laut kam aus meinem Hals, ein trockenes Knarren, wie von Holz,
das gespalten wird. Die Hand zog sich zurück. »Nicht – «, sagte ich; aber mein
Gaumen war wund, es war schwer, Worte zu formen.
Was hatte ich sagen wollen? Nicht doch!? Nicht doch, seht ihr nicht, daß ich nichts habe? Nicht doch,
habt ihr kein Erbarmen?? Was für ein Unsinn. Warum sollte es Erbarmen geben
auf der Welt? Ich dachte an Käfer, diese großen schwarzen Käfer mit rundem
Rücken, wie sie sterben, schwach die Beine schwenkend, über sich ein Gewimmel
von Ameisen, die an den weichen Stellen nagen, den Gelenken, den Augen, und das
Käferfleisch wegreißen.
Es war ein
Stock, nichts weiter, ein Stock, wenige Zoll lang, den sie mir in den Mund
gezwängt hatten. Ich konnte die Dreckkörner schmecken, die er hinterlassen
hatte.
Mit der Stockspitze hob er
meine Oberlippe an. Ich wich zurück und versuchte zu spucken. Uninteressiert
stand er auf. Mit nacktem Fuß trat er, und ein kleiner Regen aus Staub und
Steinchen flog mir ins Gesicht.
Ein Auto
fuhr vorbei, im Scheinwerferlicht sah ich die Umrisse der Kinder. Langsam zogen
sie ab, die Waterkant Street hinunter. Es war wieder dunkel.
Sind diese Dinge wirklich
geschehen? Ja, diese Dinge sind geschehen. Es gibt nichts weiter darüber zu
sagen. Sie geschahen einen Steinwurf weit weg von der Breda Street und der
Schoonder Street und der Vrede Street, wo vor einem Jahrhundert die Patrizier
von Kapstadt Order gaben, daß dort geräumige
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